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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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und Autonomie müssen in Beziehungen mühsam »durchgenommen« und ausgehandelt werden.
    Wechselseitigkeit setzt die Anerkennung der anderen Person als anders, eigenständig und gleichwertig voraus. Der Umgang mit den Konflikten und narzisstischen Verletzungen, wie sie aus diesen Gegebenheiten resultieren, ist eine Fertigkeit, an deren Erwerb die meisten Drogensüchtigen gescheitert sind. An Möglichkeiten der Reaktion finden sich in ihrem begrenzten Repertoire in der Regel nur Wohlverhalten oder Rebellion, Kuschen oder Dominanz. Wenn Nüchternheit und Abstinenz auf lange Sicht gewahrt werden sollen, dann müssen sie lernen, Konflikte in ihren Beziehungen zu lösen, anstatt solche Konflikte zu ignorieren oder zuzulassen, dass sie zu sadomasochistischen Mustern verkommen. Das Bewältigen von Meinungsverschiedenheiten wirkt strukturbildend, und die »optimale Frustration« ist eben das Vehikel, das es dem Selbst ermöglicht, allmählich die Funktionen zu internalisieren, die zuvor vom Selbstobjekt dargeboten wurden. Die psychische Struktur ist angelegt, wenn das zerrissene Band zwischen dem Selbst und der Person, die Selbstobjektfunktionen bereithält, wiederhergestellt ist (Harwood 1998).
    Ein klinisches Fallbeispiel: Michael, 35 Jahre alt, auf dem Weg der Erholung befindlicher Kokain-User und nach seinen eigenen Worten sexsüchtig, hatte mehr als zwei Jahre lang aktiv an einer ambulanten Therapiegruppe teilgenommen, die sicheinmal wöchentlich traf. Hier hatte er anfangs, kurz nach der Entlassung aus einem stationären Behandlungsprogramm , wiederholt geklagt, dass es in seinem Leben an Spannung und lustvollen Erfahrungen fehle. Ungeachtet seines ständigen Klagens schaffte er es allerdings, sich von den Drogen fernzuhalten, auch wenn sein sexuelles Agieren in den ersten anderthalb Jahren seiner Gruppenzugehörigkeit zunahm. Seine Beziehungen zur Außenwelt waren von vielfältigen sexuellen Begegnungen und kurzfristigen Verabredungen geprägt. Parallel zu seiner anhaltenden Mitarbeit in der Gruppe entwickelte er allmählich bedeutsamere Beziehungen außerhalb der Gruppe. Schließlich ließ er sich auf eine monogame Beziehung mit einer Frau ein, die ein halbes Jahr zuvor zu der Gruppe gestoßen war, und verkündete, dass er mit dem Gitarrenunterricht begonnen habe. Zum ersten Mal in seinem Leben, so sagte er stolz, mache ihm etwas anderes Spaß als »Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll«. Auch übernahm er die Rolle des Cheerleaders in der Gruppe und beendete die Treffen häufig mit der Frage: »War das nicht eine tolle Gruppe heute Abend?«
    Seine Flitterwochen mit der Gruppe endeten, als zwei Mitglieder ausschieden und zwei neue Frauen dazustießen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Zusammensetzung der Gruppe erstaunlich stabil gewesen. Eine der neu hinzugekommenen Frauen war eine aggressive und gelegentlich sehr zudringliche Person. Eines Abends war Michael soeben dabei, der Gruppe von seinen Schwierigkeiten mit seiner langfristigen Beziehung zu berichten, als die Neue, Alice, ihn zu »verhören« begann: Sie schoss eine Reihe zudringlicher Fragen ab, vermischt mit rechthaberischen Kommentaren zu seinem Verhalten. Nach einigen Minuten fragte der Gruppenleiter, wie Michael sich als der Befragte fühle. Michael antwortete: »Oh, damit komme ich zurecht. Es macht mir überhaupt nichts aus.« Er lächelte Alice und den Gruppenleiter an, ohne irgend ein äußeres Zeichen, dass es sich vielleicht anders verhalten könnte, und die Gruppe setzte ihre Arbeit fort.
    Den nächsten beiden Gruppentreffen blieb Michael fern, wobei er jedes Mal eine glaubhafte Entschuldigung am Telefon abgab. Zur dann folgenden Sitzung tauchte er wieder auf. Nachdem er eine ganze Zeit lang still und zurückgenommen dagesessen hatte, fragte der Gruppenleiter, ob seine Schweigsamkeit und sein kürzliches Fernbleiben vielleicht etwas mit der veränderten Zusammensetzung der Gruppe zu tun habe. Michael verneinte das, wirkte dabei aber nicht hinreichend überzeugend, um die übrigen Teilnehmer daran zu hindern, ihm mit Fragen zuzusetzen: Ihnen war eine Veränderung in seinem Auftreten aufgefallen. Schließlich gab Michael zu, dass er sich »ein bisschen komisch« fühle, konnte dieses Gefühl aber nicht erklären. Nachdem die Gruppe sich sehr um ihn bemüht hatte, beschrieb er schließlich sein Erleben als Kind in einer Familie, die von Mutter und zwei älterenSchwestern dominiert wurde, die alle sehr zudringlich waren und ihn sexuell beschämt hatten.

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