Bindung und Sucht
Auf die Frage, ob er etwas dergleichen auch im Gegenüber mit Alice empfunden habe, sagte Michael, da sei er sich nicht sicher. Weitere Nachfragen führten ihn zu der »vagen Erkenntnis«, dass Alice ihn in der Tat an seine ältere Schwester erinnerte und dass es ihn »wahrscheinlich« eben doch störte, dass sie ihn drei Wochen zuvor so hartnäckig befragt hatte. Als ein anderer Teilnehmer wissen wollte, warum er das damals, als der Gruppenleiter ihn danach gefragt hatte, nicht gleich gesagt habe, wagte Michael sich vor: »Ich hätte nicht mit Sicherheit sagen können, was für ein Gefühl ich dabei hatte.« Im Verlauf der darauffolgenden Monate wurde Michael von der Gruppe ermutigt, seine »vagen« Empfindungen als potentielle Signale zu betrachten, vor allem wenn er den Wunsch hatte, sich vor der Gruppe zu verstecken oder einfach wegzubleiben. Das führte schließlich zu einer gesteigerten Empathiefähigkeit und zu besserer Affektwahrnehmung.
Das langfristige Therapieziel besteht darin, der alkoholkranken oder drogensüchtigen Person zu Kapazitäten zu verhelfen, die ihr Wechselseitigkeit und Bindung ermöglichen, was wiederum dazu beiträgt, den Zyklus der Entfremdung und Isolation zu durchbrechen. So wichtig Bindung allerdings ist – ebenso wichtig ist es, sich ein Gefühl der Eigenständigkeit zu bewahren. Mit der Polarität zwischen Bindung und Autonomie muss sorgfältig umgegangen werden. Eine sichere Bindung kann nur zustande kommen, wenn unsichere und ambivalente Bindungsmuster aufgegeben worden sind (Ainsworth 1989). Wenn die Anforderungen des Spätstadiums der Behandlung bewältigt werden, wird der Patient allmählich verstehen und erleben, was es mit gelungener Wechselseitigkeit auf sich hat. Und was wichtig ist: Er wird lernen, Konflikte zu bewältigen, ohne seine Zuflucht zu Alkohol oder Drogen zu nehmen, und so seine Chancen verbessern, befriedigende Beziehungen dann auch wahren zu können. Pines (1998) erklärt, warum das so wichtig ist:
»Gesunde Menschen wachsen in einer Atmosphäre des Eingebettetseins auf, in der andere für Wechselseitigkeit, für Belohnungen und für den Anstoß zu fortgesetzter Entwicklung sorgen. In dieser Atmosphäre des Eingebettetseins [. . .] entwickeln sich Bindungs- und Zugehörigkeitsprozesse. Aus Bindung und Zugehörigkeit entstehen sowohl Autonomie wie auch Verbundenheit, die psychologische Doppelhelix des menschlichen Lebens. [. . .] Diesem fundamentalen, biologisch verwurzelten Gefühl der Wechselseitigkeit, das einen Sinn für Anstand und Gerechtigkeit nach sich zieht, entspringt der Wunsch, ›es richtig zu machen‹ und Befriedigung daraus zu ziehen. Es richtig machen zuwollen bedeutet auch, es richtigstellen zu wollen, wenn es falsch gewesen ist; es bedeutet also den Wunsch, die Dinge zu ›reparieren‹, und den Ausgangspunkt des Gefühls, dass etwas mit ihnen falsch gelaufen ist, aus dem jenes Schuldbewusstsein entsteht, ohne das die menschlichen Beziehungen eine nicht vorstellbare Destruktivität gewinnen« (S. 27).
Wenn wir Suchtverhalten und Drogenmissbrauch als Bindungsstörung betrachten, in der sich das Bedürfnis nach der Responsivität der Selbstobjekte auf problematische Weise äußert, dann wird verständlich, warum die Anonymen Alkoholiker in der beschriebenen Weise mit dieser Population arbeiten. Drogenmissbrauch ist die Folge von Bindungsstörungen und von Reaktionen auf Verletzungen des Selbst. Wie die Selbstpsychologie uns lehrt, ist das Erleben von Verbundenheit zwischen dem Selbst und den Selbstobjekten für das psychische Wachstum und Wohlbefinden von entscheidender Bedeutung. Kein Mensch kann jemals aus seinem Bedürfnis nach befriedigenden Beziehungen »aussteigen«; je weniger wir aber imstande sind, eine gesunde Vertrautheit mit anderen aufzubauen, desto größer ist die Gefahr, dass wir Drogen an die Stelle vertrauter Beziehungen setzen.
8.) So wie biochemische Interventionen (Medikation) das Verhalten verändern, können Interventionen in das Umfeld (Beseitigung stress-induzierender Reize, Angebot einer sicheren Bindung etc.) die neurologischen und biochemischen Prozesse des Individuums verändern. Der Dualismus zwischen Psyche und Physis, der die Wissenschaft seit den Tagen Descartes’ beherrscht, wird von der Bindungstheorie herausgefordert. Wann immer ein Patient emotional an seiner Therapie beteiligt ist, erfährt sein Gehirn eine Veränderung. Die Anhaltspunkte dafür, dass eine wirksame Psychotherapie die
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