Bindung und Sucht
Davis. »Und das wäre?«, fragte Emma.
»Sie sind nicht sehr geübt darin, sich auf andere zu verlassen. Es ist schon eine ziemliche Leistung für Sie, Ihre Schwachstellen zu zeigen und mir zu erlauben, dass ich Ihnen helfe.«
Wieder füllten sich Emmas Augen mit Tränen. Diesmal waren es allerdings andere Tränen – Tränen der dankbaren Zustimmung. Natürlich hatte er recht. Er hatte das eigentliche Problem erkannt: Sie tat sich sehr schwer mit der Erkenntnis ihrer Hilfsbedürftigkeit .
Ein überwältigendes Gefühl der Wertschätzung für Dr. Davis durchflutete sie, während er sprach. Manchmal fühlte sie sich, wie heute, verstanden und in völliger Harmonie mit ihm. Eine vage und fast vergessene Kindheitserinnerung stellte sich wieder ein – die Erinnerung, dass man sie hochgenommen, gehalten und in eine weiche warme Decke gehüllt hatte.
Emma sah den Therapeuten voller Sympathie an. Sie wollte mehr sagen. Sie wollte ihm sagen, wie schwer das alles sei – sich auf jemanden zu verlassen, es hinzunehmen, dass jemand sich um sie kümmerte. Obwohl es sie drängte, ihm das alles zu erklären, tat sie es nicht, weil sie wusste, dass er sich über ihren Zwiespalt völlig im Klaren war. Dieses Wissen vermittelte ihr einen unerwarteten Luxus: das Gefühl, dass jemand sie in einer Weise kannte, die keiner Worte bedurfte.
Vor dem Hintergrund der Bindungstheorie geben Lewis et al. (2000) uns zu bedenken, dass »die Aufteilung unseres Innenlebens in ›biologisch‹ und ›psychologisch‹ so irreführend ist wie die Klassifizierung von Licht als Teilchen oder als Welle« (S. 167). Laut dem Klappentext ihres Buches wird das Bindungsverlangen von machtvollen biologischen Kräften angetrieben und erfordert die emotionale Resonanz der anderen Person, wenn Stabilität gewahrt werden soll.
»Ein sehr altes Areal unseres Hirns, weit älter als die Vernunft oder das Denken, schafft die Kapazität, die allen Menschen gemeinsam ist [. . .]. Das Wirken dieses alten, zentralen Anliegens enthüllt, dass unser Nervensystem kein in sich geschlossenes System ist. Vielmehr verbinden sich unsere Hirne mit denen von Menschen, die uns nahestehen, in einem stillschweigenden Rhythmus, der die eigentliche Lebenskraft des Körpers bildet. Diese wortlosen und starken Bande bestimmen unsere Gemütslage, stabilisieren und wahren unsere Gesundheit und unser Wohlergehen und verändern die Strukturen unseres Gehirns. Wer wir sind und wer wir werden, das ist folglich großenteils davon abhängig, wen wir lieben .«
Lewis, Amini und Lannon sind zu beglückwünschen, dass sie das Risiko auf sich genommen haben, das Thema Liebe einer genauen wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen. Die meisten Psychiater sind bekannt dafür, dass sie dieses Thema meiden, vor allem soweit es sich auf Therapeuten und deren Patienten bezieht. Bücher über Bücher werden über Aggression, Hass, Neid, Furcht und eine Unzahl anderer Emotionen geschrieben, die das beherrschende Thema der therapeutischen Begegnung bilden. Liebe dagegen bleibt ein Tabuthema. Die Furcht, möglicherweise als »kuschel-freundlich« zu erscheinen, hindert Lewis et al. nicht daran, sich in einen Bereich zu wagen, den viele meiden, weil der Begriff Liebe mit vertrackten Missverständnissen und schwammigen Verlautbarungen befrachtet ist.
Bindung: Eine verallgemeinerte Theorie der Liebe
Ein Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, Bindung als eine systematische Form der Operationalisierung von Liebe zu betrachten. Die Bindungstheorie hält eine Sprache und eine Methode bereit, mit der wir uns den nebulösen Prozess, den wir Liebe nennen, erklären können. Sie kann auch als ein Versuch angesehen werden, ein Thema zu legitimieren, über das alle reden, an dem niemand aber wirklich »drehen« kann – insofern ist es dem Wetter vergleichbar. Angesichts des Schwergewichts auf der emotionalen Verbundenheit und angesichts der Funktionen, die Bindung erfüllt, empfiehlt es sich vielleicht, sich Liebe einfach als »simultane wechselseitige Regulation« vorzustellen.
Bindungstheorie und Selbstpsychologie erinnern uns ständig daran, dass wir objektsuchende Wesen sind. Von Geburt an sind wir von dem starken Wunsch nach engem menschlichem Kontakt beseelt. Je nachdem, wie sehr es uns an diesem Kontakt und an der Fähigkeit fehlt, die entsprechende Aufgabe zu erfüllen, haben wir ein emotionales Defizit und sind anfällig für Suchtverhalten. Der bekannte und beliebte Autoaufkleber mit der
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