Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
Vom Netzwerk:
neurophysiologischen Abläufe verändert, nehmen zu. Auch die einschlägige Forschung kommt zunehmend zu dem Schluss, dass alle mentalen Prozesse von physiologischen Veränderungen begleitet werden, wenn wir auch »technisch« noch nicht so weit sind, alle subtilen Veränderungen, zu denen es kommt, akkurat messen zu könnten. Bindung ist nach alldem nicht einfach ein abstraktes Konzept; Bindung ist vielmehr ein komplexer physiologischer Prozess. Tierstudien bestätigen dies. Eine sichere Bindung schafft eine stabile neurophysiologische Homöostase; ihr Nichtvorhandensein bewirkt Störungen im neurophysiologischen System. Im Bereich der Forschung verstärkt sich der Eindruck, dass die Bindungstheorie nicht so sehr eine psychologische als vielmehr eine biologische Theorie sei.
    Die Theorie vertritt den Gedanken, dass unsere Emotionen und unsere neurophysiologischenProzesse eine offene Schleife bilden, die auf Eingaben und auf die äußere Regulierung von Seiten anderer Primaten oder »Bindungsfiguren« oder »Selbstobjekte« angewiesen ist. Wir können unsere Affekte nicht unabhängig regulieren. Das Ausmaß, zu dem wir uns selbst steuern können, bestimmt sich durch Dauer und Stärke unserer frühesten Bindungserfahrungen. Je sicherer und stabiler die frühe Bindung, desto besser gelingt uns die Selbstregulation. Fehlt es an einer sicheren Bindung, dann sind wir anfälliger für Störungen und für die affektive Destabilisierung.
    Ein klinisches Beispiel: Die falsche Dichotomie, wie sie zwischen unserem psychischen und unserem physiologischen System besteht, tritt am deutlichsten zutage, wenn wir mit Trauma-Patienten arbeiten. Emma, eine Alkoholikerin auf dem Weg der Genesung, entdeckte nach neunmonatiger Nüchternheit in der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker, dass sie sich vage an ein früh erlittenes Missbrauchsgeschehen erinnerte. Die zudringliche Wiederkehr des verdrängten Traumas veranlasste sie umgehend, sich in Behandlung zu begeben. Sie fürchtete, sie könnte wieder anfangen zu trinken, und erkannte, dass ihr Alkoholismus insofern eine kompensatorische Funktion erfüllt hatte, als er sie von den schmerzlichen Gefühlen im Zusammenhang mit dem erlittenen Missbrauch abgeschnitten hatte. Die Therapie bei Dr. Davis zeitigte nach sechs Monaten deutliche, wenn auch schmerzliche Resultate. Das Transkript einer Sitzung veranschaulicht ihre Kämpfe.
    Dr . Davis wartete darauf, dass ihr Schluchzen sich legen würde; es sah allerdings nicht so aus, als ob Emmas Tränen allmählich langsamer fließen wollten . Der Fluss, der von irgendwo tief in ihrem Innern aufstieg, nahm eher noch zu.
    Obwohl Emma versuchte, sich zusammenzunehmen, konnte sie, schluchzend und nach Atem ringend, nicht verhindern, dass es ihren Körper geradezu schüttelte.
    Für den Therapeuten war es quälend, das Drama anzusehen. Es sah aus, als wollte Emmas Körper irgendein schreckliches Gift ausstoßen, das ihn bis in den Kern seiner molekularen Struktur befallen hatte. Je mehr sie sich bemühte, mit dem Weinen aufzuhören, desto stärker verweigerte etwas in ihr die Mithilfe. Der natürliche Drang ihres Körpers, sich zu reinigen, prallte mit ihrer hartnäckigen Entschlossenheit zusammen, einem imaginierten Gegner die Macht zu entringen. Selbst hier, im geschützten Raum ihres Krankenzimmers, kämpfte Emma darum, die Fassung zurückzugewinnen, sich »angemessen« zu geben.
    Dr. Davis wusste, dass diese Bemühungen um Selbstbeherrschung vergeblich waren, denn es gab hier wirklich kein Selbst, das zu beherrschen gewesen wäre. Gern hätte er ihr zugerufen: »Hören Sie auf. Sehen Sie denn nicht, dass Sie gegen sich selbst ankämpfen? Sie bringen hier eine Gegensätzlichkeit ins Spiel, wo es garkeine gibt.« Er wollte ihr erklären, dass ihre »Lösung« des Problems die Dinge nur noch verschlimmerte. »Ihr ›Selbst‹ ist ein intellektuelles Konstrukt, das die Illusion schafft, es gäbe noch ein ›Sie‹ separat von Ihrem Körper«. Ihm war klar, dass Psyche und Körper nicht aufeinander einwirken, weil sie nun einmal nicht ein und ander sind – sie sind eines .
    Ähnliche Dramen hatten sich unzählige Male in den fünfzehn Jahren abgespielt, seit er als Psychotherapeut praktizierte. Er wusste, dass Emmas Anstrengungen die Dinge nur noch verschlimmerten; aber ihr das mitten in ihr Schluchzen hinein zu sagen wäre nicht nur unsensibel, sondern auch sinnlos gewesen. Eine intellektuelle Erklärung würde sie nötigen nachzudenken, und das

Weitere Kostenlose Bücher