Bis ans Ende der Welt
wie er in Griechenland drei Tage lang blind saß, so angeschwollen war sein Gesicht. Spätestens in Spanien lernte ich, auch bei hohen Temperaturen nur im völlig geschlossenen Schlafsack zu schlafen. Lieber heiß geschlafen als von Wanzen gefressen.
Ich erzählte nichts dem Bauer und machte mich nach der Morgenwäsche im Kuhstall und dem sehr willkommenen Frühstück schleunigst auf den Weg. Natürlich regnete es wieder. Die Temperatur lag bestimmt unter zehn Grad. Bald verließ ich das Tal und stieg in die Flanke des neunzehnhundert Meter hohen Stanshorn ein. Der Berg konnte mich nicht schrecken, wie üblich sah ich ihn wegen der tiefhängenden Wolken nicht. Die Schweiz – ein Land ohne Berge. Die Aussicht betreffend, hätte ich genauso gut in einem Hochhaus die Treppe steigen können. Es ging auf und ab, aber es gab keine Berge zu sehen. Hier lag das Herz des Schweizer Bundes: Uri, Schwyz, Unterwalden. Die Gegend war recht religiös und katholisch obendrein. Es gab reichlich Kapellen unterwegs, meist aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Der Schweizer Nationalheilige, Niklaus von Flüe war hier als Bruder Klaus zu Hause. Er lebte im 15. Jahrhundert. Bis Fünfzig führte er ein wohlhabendes Leben, war Richter und Ratsherr, hatte mit seiner Frau gar zehn Kinder gezeugt. Dann wurde er Pilger und später Einsiedler in der Schlucht von Ranft. Zweitausend Jahre vor ihm tat Buddha ähnliches. Rechte Anschauung, rechte Gesinnung, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Denken, Versenkung im Gebet. Wenige handeln danach, doch einmal im Leben des Mannes kommt der Punkt, da er die Vergänglichkeit der Dinge erkennt und den Schmerz des Seins spürt. Heute würde man es vermutlich als Midlife crisis abtun.
Die einmalige, tiefe Schlucht, die von dem Flüßchen Melchaa gegraben wurde, sollte der touristische Höhepunkt des Tages sein. Der Führer leitete den Namen Ranft vom Rand, da sich die Leute hier angeblich am Rand der Welt glaubten. Demnach erwartete ich so etwas in der Größenordnung von Grand Canyon und machte mir Sorgen um die Kondition. Meine Motivation paßte heute ganz gut zum Abgrund. Aber die Kleinmut war in beiderlei Hinsicht unbegründet. Es war noch früh am Nachmittag und auch noch keine Klause in Sicht, da bog ich auf dem engen Waldpfad um die Ecke und sah völlig überrascht einen modernen Kirchbau vor mir stehen. Nachträglich betrachtet war es wohl eine der eindrucksvollen Kirchen, die ich auf dem Pilgerweg sah, und es müssen wohl viele gewesen sein, die ich unterwegs besuchte. Holz und Glas und Raum, imposante Einfachheit in Eindrucksfülle, greifbare meditative Stimmung. Ein Ort der Besinnung im wahren Sinne des Wortes. Die Kirche gehörte zu einem Heim der Dominikanerinnen, das verheißungsvoll „Haus Bethanien“ hieß. Sechs Tage vor dem Paschafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den er von den Toten auferweckt hatte. [20] Maria und Martha von Bethanien hatten einen Bruder, der Lazarus hieß. Das Johannesevangelium erzählt von seiner Auferweckung, nachdem er bereits vier Tage im Grab gelegen hatte. Das Wort Lazarett kommt von Lazarus. Der Name aber bedeutet: „Gott hat geholfen.“ Richtig! Für jeden schlechten Tag schickt der Herr einen guten, nie prüft er uns über unsere Kraft hinaus. Ich wußte, ich bin gut eingetroffen, hier konnte ich ruhen und neue Kraft schöpfen. Mich sogar in der Badewanne einweichen lassen — des Kuhstalls eingedenk. Als ich später frisch und sauber in der Bibliothek saß und an dem Tagebuch schrieb, hob sich nach einem heftigen Platzregen draußen die Wolke und enthüllte im tiefen weiten Tal einen bezaubernden See mit Bergen rings herum. Und die Sonne spann einen prächtigen Regenbogen über das Paradies. Alle staunten nicht wenig, und hätten sich ein paar Engel vom Aufwind aus der Schlucht hoch tragen lassen, keiner hätte sich mehr gewundert. Engel aber sind unsichtbar.
Das Haus hätte zehnmal mehr Gäste haben können, aber mir war es so nur recht. Hier war Raum vorhanden. Im Haus, in der Kirche, außen – viel Raum. Viel Ruhe. Freilich hatte ich draußen in der Natur immer viel Raum um mich herum, aber sobald ich ein Haus betrat, waren es stets nur beengte Verhältnisse. Irgendwie wuchs in mir das Verlangen nach Raum. Es ließ mich die ganze Pilgerschaft nicht los. Manchmal wachte ich in der Nacht auf und ging aus dem Haus hinaus, um in den Himmel zu sehen. Ich brauchte die Weite des Weltraums, um atmen zu können. Ich
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