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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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übermorgen und überübermorgen liegen wird, so daß man gar nicht aufhören braucht, sich daran satt zu sehen, da muß einem ja mulmig werden. Auch ein Freudenschrei wäre legitim.
    So kam ich in der Bischofsstadt Freising an und quartierte mich dank der telefonischen Fürsprache von Pater Gunther gratis im Gästehaus der Pallottiner ein. Duschen, alles waschen, essen und schlafen gehen, damit sollte in den kommenden Monaten jeder Tag enden. Zuweilen konnte man noch ein Gottesdienst oder eine Begegnung mit Freunden dazwischen schieben.
    An diesem Tag besuchte mich, zum Abschied sozusagen, mein Freund Martin, und wir gingen zum Abendessen in einen Biergarten. Er kam extra aus Landshut mit dem Wagen, sah wieder älter aus. Seit Jahren litt er schon an unheilbarem Prostatakrebs. Der aktuelle PSA-Wert war schockierend, aber er meinte, er fühle sich bestens. Man sah ihm an, er würde wohl gerne mitgehen. Wenn er nur könnte. Vier Monate sind eine lange Zeit, wenn man diejenigen, die man liebt, zurückläßt. Meine Mutter sollte ins Krankenhaus zur Operation. Sechsundachtzig Jahre, schwere Angina pectoris und Arterienverschluß im Bein machten ihr Angst. Mir auch. Obendrein ist erst kürzlich ihre jüngere Schwester verstorben. Man könne nicht warten, bis alle weggestorben sind, um loszugehen, man käme nie weg, meinte Martin nachdenklich, und wir redeten am Biertisch über mehr solche Dinge, weil es gute Zeit dafür war, und wir ahnten, daß diese Gelegenheit vielleicht nie mehr kommt. Wird er noch da sein, wenn ich zurückkomme, werden wir uns wiedersehen?
    Welchen Trost spendet man jemanden, der schon weiß, wann er sterben muß? Ich erinnerte mich, wie ich durch ihn zum Glauben fand. Er war vom Lande und erbte die Zähigkeit und die Tiefe des bäuerlichen Denkens, obwohl er selber dem Milieu entwachsen war. Einmal erzählte er mir, er könne nur langsam lesen, komme nicht von der Stelle, weil er über jedes Wort, das im Buch steht, genau nachdenken muß. Er konnte geduldig zuhören und mit einem pointierten Satz den Nagel auf den Kopf treffen. Als ich vor vielen Jahren einmal zum unzähligen Male über meinen Liebeskummer klagte und klagte und klagte und gar nicht aufhören konnte, da sagte er plötzlich: „Was dir fehlt, ist die Demut! Du kennst die Demut nicht. Du weißt gar nicht, was das ist, die Demut.“ Natürlich war ich empört. Nicht über Demut, sondern über Liebe wollte ich sprechen. Wo sollte hier der Zusammenhang sein? Dann, auf dem Heimweg nachdenkend, stellte ich fest, daß ich tatsächlich nicht wußte, was Demut ist. Zu Hause sah ich im Lexikon nach und wußte es immer noch nicht. Ein einfaches, längst aus der Mode, aus dem Gebrauch gekommenes Wort, die Demut, und ich konnte es nicht begreifen? Es beleidigte die intellektuelle Eitelkeit. Schließlich landete ich für ein Jahr im Kloster, wo ich nach und nach zum Glauben fand. Wo wäre ich heute ohne Glauben? Aber die Demut? Da suche ich noch: Herr, mein Herz ist nicht stolz, nicht hochmütig blicken meine Augen. Ich gehe nicht um mit Dingen, die mir zu wunderbar und zu hoch sind. [2] Man prüfe sich.
    Martin fuhr heim, der Tag war vollendet. Ich aber bin wie ein Fluß. Ein Fluß hält nicht an, fließt, fließt vorbei, an Gutem und an Schlechtem. Wir haben uns nicht mehr sehen sollen, ich und Martin. Aber es war ein guter Abschied – in aller Demut.
München, km 131
    Gut ausgeschlafen startete ich am nächsten Morgen in den Tag. Der versprach herrlich zu werden. Vor dem Frühstück meditierte ich noch im Klostergarten. Der Park bescherte mir das erste Wunder, und ich war auch in der Stimmung, es zu sehen. Wie oft geht man an Wundern einfach vorbei. Weil man Streß hat, weil man mit sich und der Welt unzufrieden ist, zieht man blind dahin. Heute ging ich nicht blind, sondern sehend. Daran hegte ich keine Zweifel.
    Bis nach München schlängelt sich der Weg durch die Flußlandschaft an der Isar. Es ist ein richtiger Urwald mit herumhängenden Lianen und kreischenden Vogelstimmen. Zwischen den hohen Bäumen sieht man den Fluß, wie er zielstrebig an den Kieselbänken vorbei dahinzieht. Ein Wunder. Also bellte ich übermütig ein paar Runden mit Hunden auf dem anderen Ufer mit. Die Vorstellung, so die nächsten Monate weiterzugehen, war überwältigend.
    Man hätte auch verweilen können, doch leider. Eine Sitzgelegenheit, sei sie auch noch so bescheiden, sucht man auf dem Camino hier wie vielerorts meist vergeblich. So bleibt der Pilger nicht

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