Bis ans Ende der Welt
Mädchen auf einmal für ihn? Vor Kristine hatte ihn keine auch nur eines Blickes gewürdigt, oder fast keine. Gut, viele hatte er nicht kennen gelernt, aber normal war das alles nicht: Kaum hatte er eine Freundin, tauchte die nächste auf. Und dann war da noch der Kuss von Miriam, was er davon halten sollte, war ohnehin ein Rätsel.
»Wann und wo? Soll ich dich wecken?«
»Hilda - was gefällt dir eigentlich an mir?«
»Alles. Was sollte mir nicht gefallen? Außer dass du eine Freundin hast. Aber die ist jetzt sowieso sauer auf dich, also kannst du ihr auch einen Grund geben. Was gefällt dir an mir?«
»Auch alles. Außer dass ich eine Freundin habe.«
»Siehst du, so haben wir was gemeinsam. Ich komme gegen zwei und weck dich.«
Sex und Liebe: eigentlich zwei grundverschiedene Dinge. Man liebte ja auch seine Eltern oder Kinder, manche liebten ihr Auto oder einen Goldhamster. Und ein Hamster war nicht sauer, wenn man mit irgendwem Sex hatte. Ralf beschloss, das Schicksal entscheiden zu lassen: Wenn Hilda wirklich um zwei in der Nacht aufwachte und an ihrem Plan festhielt, dann sollte es eben sein. Irgendeinen Sinn musste es ja haben, dass er sie kennen gelernt hatte. Natürlich konnte das auch eine weitere Prüfung sein, aber nach der Sache mit dem Fernrohr war es nicht mehr so sicher, dass das Schicksal in erster Linie Gerechtigkeit im Sinn hatte.
Vor dem Einschlafen las Miriam im unteren Stockbett in ihrem Horoskopbuch. Als sie das Licht ausmachte, wartete Ralf, ob sie einen Gutenachtkuss wollte, heute war sie mit Fragen dran. Sie fragte aber nicht - wollte wohl keinen. Vielleicht sollte er einfach einschlafen, er war hundemüde. Das Fernrohr hatten sie gemeinsam gereinigt, so gut es ging, aber wenn man die Objektive bewegte, knirschte Sand. Den Blick durch das Rohr trübte im unteren Drittel ein Dunstschleier aus hauchfeinen Tröpfchen kondensierter Flüssigkeit. Kristine würde ihm das Ding über den Schädel ziehen. Ob Hilda kam oder nicht, egal, das Fernrohr war hinüber und er wollte jetzt schlafen.
»Ralfi, bist du noch wach?«
»Mhm.«
»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«
»Nein.«
»Es ist vielleicht besser, Kristine vorauszufahren.«
»Mhm.«
»Willst du nicht wissen, warum?«
»Warum?«
»Wir könnten bei den Backpacker-Pensionen eine Nachricht für sie hinterlassen, mit einem Treffpunkt an einem bestimmten Tag. Wenn sie es zu dem Zeitpunkt nicht schafft, könnte sie uns anrufen.«
»Mhm.«
»Und zu dieser Diskothek The Beach kommt sie ganz sicher. Da sagen wir es dem DJ.«
»Mhm.«
Miriam flüsterte noch: »Krieg ich einen Gutenachtkuss?«
Aber Ralf war sich nicht sicher, ob sie es wirklich gefragt hatte oder er schon träumte.
»Pssst! Wach auf!«
Es wurde feucht an seinem Ohr, Ralf schreckte auf.
»Hilda!« Etwas leuchtete in sein Gesicht.
»Psst. Sei leise.«
Sie stand auf Miriams Bett, hatte eine Taschenlampe im Mund und kniff ihn mit den Fingernägeln kräftig in die Seite.
»Au.«
»Psst. Komm jetzt.«
Oh Mist, warum hatte er sich überreden lassen? Ralf hatte nicht die geringste Lust auf »körperliche Begegnung«, der gesamte Harem des saudischen Königshauses könnte jetzt keine Begierde aus ihm herauskitzeln, überhaupt konnte ihm jegliches Abenteuer gestohlen bleiben, er wollte schlafen, Decke über den Kopf und gute Nacht bis übermorgen Mittag.
»Ich komm gleich.«
»Nein, jetzt.« Hilda kniff wieder zu, fester als beim ersten Mal, obwohl Ralf das kaum für möglich gehalten hätte. Er hielt die Luft an, um nicht zu schreien.
»Los, raus. Aber leise.«
Ralf tat wie befohlen und quälte sich zentimeterweise aus dem Bett.
Hilda stieg von der Bettkante und wies ihm mit dem Lichtkegel der Taschenlampe den Weg. Als Ralf auf die untere Matratze stieg, brummte Miriam ein verstörtes »Hm?«. Ihr Haarschopf lugte zerzaust unter der Decke hervor, und ihr Mund, halb im Laken vergraben, sah auf fast unwiderstehliche Weise zerknautscht aus. Ralf hätte ein Kaiserreich dafür gegeben, sich zu ihr in die Kissen kuscheln, an ihren warmen Körper schmiegen und weiterschlafen zu können, aber erstens hatte er kein Reich, und zweitens drängte Hilda: »Mach schon.«
Hilda befand, Ralfs Schlafklamotten seien in Ordnung. Anziehen fiel also aus. Die Luft draußen war allerdings nicht mehr so lau, Ralf fröstelte vor sich hin und dachte an eine warme Decke. Sie waren unterwegs zum Strand - Hilda hatte beschlossen, dem Tipp des Bademeisters zu folgen und es einfach bei
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