Bis du stirbst: Thriller (German Edition)
verbringt die Nacht in einem Stockbett in einem Lagerhaus an der South Circular Road. Das Haus ist vollgestopft mit Klimaanlagen, die noch in der Originalverpackung stecken. Irgendein schlauer Unternehmer hatte viertausend Stück davon aus Taiwan importiert, in der Meinung, die globale Erwärmung ließe sich nicht mehr stoppen.
Das war vor dem nassesten, kältesten Sommer des Jahrhunderts. Der Kerl ging bankrott. Tony Murphy hatte die Apparate übernommen, für einen Zehner das Stück. Es war ein perfektes Beispiel dafür, wie Dummheit und Kapitalismus einander bisweilen perfekt ergänzen können.
Sami schlief nicht. Er verbrachte die Nacht damit, an Nadia zu denken und sich selbst zu bemitleiden. Pech sollte eigentlich herumschweben und zufällig auf Leute herunterfallen – ein bisschen hier, ein bisschen da. Auf Sami regnet es schon sein ganzes Leben lang herunter, es scheißt förmlich auf ihn. Jetzt schwimmt er in einem Meer aus Scheiße und weiß nicht, welches Ufer er anpeilen soll.
Er kann die Bilder von Nadia immer noch nicht loswerden, wie sie für Crack tanzt und auf Händen und Knien kriecht. Das Letzte was er von ihr gesehen hatte, war, wie sie sich in einer Ecke zusammenkauerte, zitternd, verängstigt, erniedrigt, unfähig zu sprechen.
Als Sami sie aus dem untergegangenen Auto gerettet hatte, war sie genauso gewesen, sprachlos vor Entsetzen. Monatelang hatte Nadia kein Wort gesagt. Der Psychologe meinte, es wäre posttraumatischer Stress. Sami stellte sich vor, dass die Schreie im Kopf seiner Schwester gefangen waren und so laut widerhallten, dass Nadia das Geräusch ihrer eigenen Stimme nicht mehr hören konnte.
Sami nahm sie mit zu einem Ort, den er kannte – eine Unterführung bei der Clapham Junction, wo die Expresszüge darübertosten und selbst der lauteste Schrei nicht zu hören war. Er mietete einen tragbaren Generator und baute ein Mikrofon und den größten Verstärker in der Unterführung auf, den die Band hatte. Sie warteten auf den nächsten Zug, und er sagte zu Nadia, sie solle ihren Mund aufmachen und den Schrei herauslassen. Der Zug sauste mit einem donnernden Tosen über ihren Köpfen vorbei.
Es dauerte noch weitere fünf Züge, bevor es geschah. Nadia gab erst nur einen kleinen Fiepser von sich, dann weinte sie, dann schrie sie ins Mikrofon, warf ihren Kopf in den Nacken und heulte. Sami fragte sich, was die Passagiere im Zug wohl über die Stimme gedacht hatten, die sie aus der Unterführung hatten dröhnen hören. Nadia hatte ihre Stimme wiedergefunden; hatte sie über die Schreie in ihrem Kopf hinweg gehört; hatte sie herausgelassen in einem Rausch aus Tränen, Rotz und Trauer.
Sami hält inne und lauscht. Ein Wagen hält draußen. Die Schiebetür öffnet sich, und ein weißer Lieferwagen fährt hin ein. Dessie sitzt vorne neben dem Fahrer, der eine dunkle Sonnenbrille trägt und aussieht wie ein Maurergehilfe. Einiges an ihm kommt ihm bekannt vor – die bleiche Haut und der ballonförmige Kopf.
Da erinnert sich Sami. Das ist derselbe Kerl, der ihn draußen vor Wormwood Scrubs angesprochen hatte, an dem Tag, als er rauskam.
Sami stellt ihn sich riesig vor, aber als er aus dem Wagen steigt, reicht er Sami gerade mal bis zur Brust. Er nennt sich Sindbad und hält sich nicht groß mit Händeschütteln auf. Stattdessen lässt er seine Fingerknöchel knacken und dehnt seine tätowierten Unterarme, die dicker sind als seine Beine.
Der Lieferwagen hat Leitern obendrauf und ein Logo an der Seite: Elevation Solutions – Wartung und Reparatur von Aufzugsanlagen.
Dessie wirft Sami eine Schirmmütze zu, Arbeitsstiefel und einen blauen Overall, nichts, was zu neu oder zu sauber wäre. Sie sollen wie Techniker aussehen. Profis.
Im Wagen gibt es Seile, Flaschenzüge und Werkzeug. Unter einer Plane ist noch mehr Ausstattung: ein Bohrhammer auf einem Gerüst, ein Stethoskop und eine Glasfaserkamera, noch in ihrem Karton.
Dessie gibt Sami einen braunen A4-Umschlag. Darin befindet sich die Beschreibung eines Tresors, zusammen mit dem Grundriss eines Gebäudes. Aufzugschächte, Sicherheitstüren und Überwachungskameras – alles ist darauf eingezeichnet.
Sami setzt sich und fängt an, den Plan zu studieren; versucht, so zu tun, als wisse er, was er da mache, obwohl er keinen blassen Schimmer hat.
»Ich muss wieder an die Arbeit, hab ’nen Anruf gekriegt«, sagt Sindbad.
»Was denn für eine Arbeit?«
»Stecken gebliebener Aufzug.«
»Ich brauche aber noch mehr Zeit.«
»Keine
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