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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Four Seasons hatten, hieß nicht, daß
Jack dazu verdammt war, mit Maureen Yap zu schlafen. Sie würde ihn niemals
finden, davon war er überzeugt; er war unter einem neuen Namen angemeldet. Weil
der Billy-Rainbow-Film schon angelaufen war, firmierte Jack jetzt als Jimmy
Stronach. Da er den Namen des Pornostars neu erfunden hatte und nicht einmal
Bob Bookman oder Alan Hergott seine zahlreichen Überarbeitungen von Emmas
Drehbuch gelesen hatten, wußte tatsächlich kein Mensch, unter welchem Namen
Jack Burns hier war.
    Die Frauen, die in die Kapelle von St. Hilda gekommen waren, wollten ihn sehen – Jack Burns, den Filmstar. Zwar erkannte
er die meisten nicht, aber sie waren größtenteils in den Dreißigern oder
Vierzigern. Wahrscheinlich hatten sie Jack als kleinen Jungen zumindest vom
Sehen gekannt – und zweifellos kannten sie seine Filme. Ihre Ehemänner (soweit
vorhanden) waren nicht dabei, ihre Kinder vereinzelt schon. Zwar trugen die
Frauen [634]  Schwarz oder Marineblau, aber ihre Kleidung schien Jack eher zu einer
Abendgesellschaft als zu einer Beerdigung zu passen. Vielleicht wurde dieser
Eindruck noch dadurch verstärkt, daß die Trauerfeier für Emma an einem
Sonntagabend zur Cocktailzeit stattfand.
    Und die vierte von Jacks Klassenkameradinnen, die an der Trauerfeier
teilnahm, war erst nach der Vorschule nach St. Hilda gekommen. Lucinda Fleming
war eine neue Schülerin gewesen, als er sie in der ersten Klasse kennengelernt
hatte; sie war nie in den Genuß von Emmas Einschlafgeschichten gekommen.
Lucinda mit ihrer »stillen Wut«, wie Miss Wong sie einmal genannt hatte, war
mit Emma Oastler niemals eng vertraut gewesen.
    Was hatte Lucinda bewogen, Jack auf die Liste derer zu setzen, die
eine Weihnachtskarte von ihr bekamen? Was hatte sie zu einer so unermüdlichen
Organisatorin der Klassentreffen in St. Hilda gemacht, obwohl sich doch alle an ihre heftige Überreaktion auf den bewußten Kuß
erinnerten? (Und wie sie sich so schlimm gebissen hatte, daß sie genäht werden
mußte; wie sie im Stockwerk der Drittkläßler in ihrer eigenen Pisse gelegen
hatte!)
    Wenn Lucinda Fleming gewußt hätte, wie sehr Emma Weihnachtskarten
und die Leute, die sie schrieben, gehaßt hatte, wäre sie nicht gekommen, um ihr
die letzte Ehre zu erweisen. Wenn sie auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt
hätte, welche Verachtung Emma für die wiederholten Geburtsanzeigen empfand,
weshalb sie Lucindas Weihnachtskarten abfällig als »Fortpflanzungsstatistik«
bezeichnete – dann hätte Lucinda (hätte sie Emma überhaupt gekannt) keine Veranlassung gesehen, für Emmas Seele zu beten.
    Aber es war Jacks Seele, hinter der Lucinda und die anderen her
waren – und er verlor, obwohl er in den Augen dieser Frauen ein Star sein
mochte, in ihrer Gesellschaft augenblicklich den entscheidenden Kontakt zu
seinem Einmannpublikum. In der Kapelle von St. Hilda, wo sogar Jesus als ein
von Frauen – [635]  vielleicht Heiligen, aber eindeutig Frauen – Umringter dargestellt war, fühlte er sich nicht wie Jack Burns, der
Schauspieler. Er fühlte sich wie Jack Burns, der kleine Junge – verloren in
einem Meer von Mädchen. Ungeachtet dessen, daß sie mittlerweile erwachsene
Frauen waren. Indem er wieder in ihre Welt eintrat, war Jack in seine Kindheit
und deren Ängste zurückgekehrt – und wie einem Kind war ihm so bang und
beklommen zumute wie nur je zuvor.
    Wie konnte Jack vor diesem Publikum älterer Frauen – darunter jene
erwachsenen Mädchen und älteren Frauen, die ihn geprägt hatten – »ein paar Worte« über Emma sagen? Wie konnte er sich an diesem
heiligen Ort – wo er schon als kleiner Junge Gott den Rücken gekehrt hatte –
unbefangen fühlen?
    Er packte mit beiden Händen die Brüstung der Kanzel, konnte aber
nichts sagen – die Worte kamen einfach nicht. Die Trauergemeinde wartete auf
ihn – die Versammelten waren so still wie Emmas Herz.
    Schrecklich, was für Streiche einem der Verstand
spielen kann, wenn man Angst hat, dachte Jack. Er hätte schwören können,
er sähe unter den Frauengesichtern, die allesamt zu ihm aufblickten, das von
Mrs. Stackpole – der längst verstorbenen Geschirrspülerin aus seiner Zeit in
Exeter. Wenn er es gewagt hätte, die Gesichter genauer zu mustern, wäre er
womöglich auf Mrs. Adkins gestoßen, die vor so langer Zeit im Nezinscot
ertrunken war – oder Claudia, die gedroht hatte, ihm zu erscheinen, oder Leah
Rosen, die in Chile gestorben war, oder gar Emma selbst, die wegen

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