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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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seiner
Unfähigkeit, das zu sagen, was er sich vorgenommen hatte, fraglos von ihm
enttäuscht gewesen wäre.
    Jack versuchte, über ihre Gesichter hinauszublicken, sich auf
niemanden zu konzentrieren – außer vielleicht auf Mr. Ramsey, der immer so
ermutigend gewesen war. Aber Mr. Ramsey war nicht mehr zu sehen. Er war von dem
Meer der verspätet Gekommenen verschlungen worden – den jungen Mädchen, [636]  Schülerinnen von St. Hilda, die allesamt ihre Schuluniform trugen, als wäre
dieser besondere Sonntagabendgottesdienst bloß eine ganz normale Schulstunde.
    In seinem augenblicklichen Gemütszustand hielt Jack die Mädchen für
Geister, aber sie waren Internatsschülerinnen – die einzigen Schülerinnen von
St. Hilda, die sich sonntags auf dem Schulgelände aufhielten. Sie hatten
offenbar allen Mut zusammengenommen, um geschlossen vom Wohnheim
hierherzukommen. Man hatte sie nicht eingeladen, obwohl sie mit ihren siebzehn,
achtzehn Jahren in der Altersgruppe der glühendsten Verehrerinnen von Emma
Oastler waren. (Junge Frauen waren Emmas eifrigste Leserinnen gewesen.)
    Es brachte ihn aus der Fassung, sie in ihren typischen Posen von
Mißmutigkeit und Überschwang, Adrettheit und Schlampigkeit hinten in der
Kapelle stehen zu sehen – wie er sie mit vier Jahren gesehen und dabei zum
ersten Mal das Bedürfnis verspürt hatte, seine Mutter bei der Hand zu nehmen.
Ihr Anblick erinnerte ihn an seine Angst vor ihren nackten Beinen – mit den bis
auf die Knöchel heruntergestreiften Kniestrümpfen, wie um ihre innere Unrast zu
offenbaren. Die schräg gestellten Hüften, die über die Rockbünde hängenden
Blusen, die nicht geschlossenen Knöpfe, die zerbissenen Lippen und das
absichtlich ungekämmte Haar – da waren sie, die namenlosen Mädchen, einige mit
einer zerlesenen Taschenbuchausgabe von Emmas erstem oder zweitem Roman in der
Hand, und bei allen erkannte Jack die Gesten einer
erwachenden Sexualität, die er als Schauspieler so kunstvoll nachgeahmt hatte.
(Und das als Mann!)
    Sie verschlugen Jack den Atem, brachten ihn zugleich aber zu der
bevorstehenden Aufgabe zurück. Er fand seine Stimme wieder, obwohl sie schwach
war – kaum lauter als ein Flüstern –, und er sprach, als wendete er sich nur an
sie, diese jungen Internatsschülerinnen. Wahrscheinlich waren sie in den
Klassen zwölf und dreizehn.
    [637]  »Sie hielt immer…«, begann Jack,
»…meine Hand. «
    Ohne Mrs. Oastlers Seufzer der Erleichterung hätte er gar nicht
gemerkt, daß sie den Atem angehalten hatte. Ein unwillkürlicher Schauder ließ
Miss Wongs Schultern erbeben; ihre Knie lösten sich, ihre Beine fielen schlaff
auseinander.
    »Emma Oastler hat sich um mich gekümmert«, fuhr Jack fort. »Ich
hatte keinen Vater«, erzählte er ihnen – als ob sie das nicht schon gewußt
hätten! »Aber Emma war meine Beschützerin. «
    Das Wort Beschützerin durchfuhr Maureen
Yap wie ein elektrischer Schlag; ihre Hände flogen von ihrem Schoß auf, die
Handflächen nach oben gedreht und auseinandergeklappt wie die Seiten eines
Gebet- oder Gesangbuches. (Jack rechnete fast damit, daß sie anfangen würde zu
singen.) Lucinda Fleming schürzte die Unterlippe und klemmte sie sich zwischen
die Zähne. Man hörte ein Geräusch, als bräche der Rücken eines neuen Buches –
Wendy »Steinfäuste« Holton ließ die Knöchel an ihrer flachen Brust knacken.
    Da kamen Jack, ganz unbeabsichtigt, die Tränen – er schauspielerte
nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, fing er einfach an zu weinen – und
konnte nicht mehr aufhören. Er hatte noch mehr sagen wollen, aber welchen Sinn
hatte das? War das nicht die Darbietung, auf die sie alle gehofft hatten? JACK BURNS BRICHT ZUSAMMEN! ALLES NUR GESPIELT? , hieß
es danach in einem Boulevardblatt. Aber es war nicht gespielt.
    Diese herzzerreißenden jungen Mädchen (die allein gelassenen
Internatsschülerinnen mit ihrer gesammelten Einsamkeit) setzten seine Emotionen
frei – die Art, wie sie einfach nur da standen, ohne auch nur einen Moment
stillzustehen. Sie schüttelten sich das Haar aus; sie zuckten die Schultern –
sie verlagerten ihr Gewicht mal auf das eine, mal auf das andere Bein. Sie
schoben da eine Hüfte heraus, winkelten dort einen Ellbogen an. Sie kratzten
sich an den bloßen Knien und inspizierten ihre Fingernägel, während sie mit der
Zungenspitze die Oberlippe oder [638]  den Winkel ihres geöffneten Mundes berührten
– als wäre Jack Burns in einem Film auf einer riesigen Leinwand

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