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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und sie sähen
ihm aus der Dunkelheit zu, geborgen und unsichtbar.
    Jack hörte einfach auf zu reden und ließ den Tränen freien Lauf,
ohne zunächst zu merken, was er damit bei der versammelten Trauergemeinde
auslöste. Er hatte keineswegs die Absicht gehabt, sie zum Weinen zu bringen,
doch das war die unvermeidliche Folge.
    Mrs. Malcolm warf sich in ihrem Rollstuhl unkontrollierbar hin und
her, als wäre ihr ein dritter – zu Verkrüppelung oder Blindheit oder beidem
führender – Unfall zugestoßen. Es mußte etwas sein, das abzuwenden Mr. Malcolm
in seinem Kummer nicht die Kraft besaß. Alice’ Gesicht, das im Tränenstrom
alterslos wirkte, war nach oben zu Jack gewandt. Er konnte ihr die Worte von
den Lippen ablesen. (»Es tut mir so leid, Jackie!«)
    »Jack Burns!« schrie Mr. Ramsey mit einem unterdrückten Schluchzer.
    Miss Wurtz hatte das Gesicht mit einem weißen Taschentuch bedeckt,
als stünde sie – alles andere als gleichmütig – einem Erschießungskommando
gegenüber.
    Caroline French, die Klassentreffen gewöhnlich fernblieb, war auch
der Trauerfeier für Emma ferngeblieben. Jack bedauerte, daß ihm das Geräusch
ihrer trommelnden Fersen entging, so wie ihr das dröhnende Fersentrommeln ihres
verstorbenen Zwillingsbruders Gordon fehlen mußte – er hatte das nasse Grab
eines Seefahrers gefunden. Gräßliches Stöhnen von Jimmy Bacon hätte gut zur
Trauerfeier für Emma gepaßt, aber auch Jimmy war nicht da. Zum Glück
enttäuschten die Booth-Zwillinge Jack nicht – Heather und Patsy mit ihren
identischen Deckennuckelgeräuschen, in die sich nun die spontanen
Trauerbekundungen der Gemeinde mischten.
    Ein Heulen entfuhr Wendy Horton, die sich die Steinfäuste gegen die
Schläfen preßte. Ein Bellen brach aus Charlotte [639]  Barford hervor; sie drückte
sich die Knochenbrüste, als ließe ihr hämmerndes Herz sich anders nicht im Zaum
halten.
    Sie alle hätten sich um den Verstand geweint, wenn Jack nichts
gesagt hätte; sie würden immer noch weinen, wenn er sich nicht etwas hätte
einfallen lassen. »Lasset uns beten«, sagte Jack, als hätte er die ganze Zeit
gewußt, was er tat. (Sie befanden sich in einer Kirche – und da wird nun mal
gebetet!)
    »Es war ein mieser Tag, und du bist sehr müde«, hatte Emma in seiner
Vorschulzeit intoniert. Aber das klang nicht nach einem passenden Gebet. »Für
drei von euch«, hatte Emma jedesmal gesagt, bevor sie die Saga vom gequetschten
Kind zu Ende erzählte, »wird dieser miese Tag immer mieser.« Doch das hatte
etwas Unabgeschlossenes und war vom Ton her eher bedrohlich – also alles andere
als auf die übliche erhebende Weise gebetsmäßig.
    Und so sprach Jack Burns das einzige Gebet, das ihm in diesem
Augenblick einfiel. Es war das Gebet, das er und seine Mutter schon lange nicht
mehr gemeinsam sprachen; normalerweise machte ihn der Gedanke daran traurig,
weil es alles versinnbildlichte, was zwischen ihm und seiner Mutter ungesagt
blieb, aber es hatte den Vorzug, daß es kurz war.
    Die vor ihm gebeugten Köpfe boten einen eindrucksvollen Anblick,
obwohl er Tschenko in der Reihe unmittelbar hinter seiner Mutter erst erspähte,
als dieser den Kopf neigte. Auf seinem kahlen Schädel prangte die vertraute
ukrainische Tätowierung – ein Wolf mit gefletschten Zähnen, der Jack (ganz
gleich wie oft er ihn schon gesehen hatte) jedesmal irritierte.
    »Der Tag, den Du gegeben, Herr, ist vorüber«, sagte Jack zu dem
einzigen Gesicht, das zu ihm aufblickte – dem des Wolfes. »Wir danken Dir
dafür.« Und was nun?, fragte er sich, wurde jedoch
vom Organisten gerettet, den er nie zu Gesicht bekam. (Er befand sich hinter
Jack.) Der Organist wußte, wie und wann man eine Stille überbrücken mußte, und
– in St. Hilda –, womit. Das Kirchenlied, das nun über sie hereinbrandete,
kannten sie [640]  alle auswendig. Selbst jene verstoßenen Jungen, die die Schule
mit ihren Morgenandachten am Ende der vierten Klasse verlassen hatten – selbst
sie hatten es nicht vergessen. Mit Sicherheit hatten sich sämtliche Ehemaligen,
gleich welchen Alters, diese Vierzeiler eingeprägt; zweifellos murmelten sie
noch im Schlaf ihren geliebten William Blake.
    Und was war mit den Internatsschülerinnen, die unruhig im hinteren
Teil der Kapelle standen, wo sich Mr. Ramsey spontan zu ihrem Chorleiter aufschwang?
Was war mit diesen Mädchen, die sich – jenem Alter des Erblühens entsprechend –
nach einem Leben ohne Schuluniform sehnten, denen zugleich aber davor

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