Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
daß Claudias Geist über ihn wachte; sie lächelte übers
ganze Gesicht, als er den Brief aufgab.
    Unmittelbar nach dieser unaufrichtigen Korrespondenz kam es zu einer
ganz anders gearteten Kommunikation. Caroline Wurtz’ Anruf, der ihn eines
frühen Augustmorgens weckte – er hatte zum zigsten Mal davon geträumt, Emmas
Tätowierung zu berühren –, hatte nichts Unaufrichtiges. Eine Familie aus Düsseldorf,
mit der er die Grenzen seiner in Exeter erworbenen Deutschkenntnisse ausgelotet
hatte, war bereits auf und schwamm im Pool des Oceana.
    »Jack Burns, wie Mr. Ramsey sagen würde«, begann Miss Wurtz. »Steh
auf und werde licht!« Die Wurtz hatte natürlich keine Ahnung, was für eine
Schandtat Jack begangen hatte. (Daß er jetzt und künftig aufstehen würde, war
immerhin wahrscheinlich; mit dem »licht« dagegen sah es weniger rosig aus.)
    [992]  »Wie schön, Ihre Stimme zu hören, Caroline«, sagte er
wahrheitsgemäß.
    »Du hörst dich gräßlich an«, sagte Miss Wurtz. »Tu ja nicht so, als
hätte ich dich nicht geweckt. Aber ich habe Neuigkeiten, die das Aufstehen
lohnen, Jack.«
    »Sie haben von ihm gehört?« fragte Jack, mit einemmal hellwach.
    »Nicht von ihm, sondern über ihn. Du hast eine Schwester, Jack!«
    Falls sein Vater wieder geheiratet hatte – und das hatte er offenbar
–, war es biologisch gesehen vorstellbar, daß Jack eine Halbschwester hatte,
und das war in der Tat sowohl für ihn als auch für Miss Wurtz eine Neuigkeit.
    Sie hieß Heather Burns, war Lehrbeauftragte für Musikwissenschaften
an der University of Edinburgh, wo sie einige Jahre zuvor auch ihr Musikstudium
abgeschlossen hatte. Heather war Pianistin und Organistin und spielte außerdem
Flöte. Ihren Doktor hatte sie in Belfast gemacht.
    »Über Brahms«, informierte ihn Caroline. »Irgend etwas über Brahms
und das neunzehnte Jahrhundert.«
    »Mein Vater ist wieder in Edinburgh?« fragte er die Wurtz.
    »William geht es nicht gut, Jack. Er ist in einem Sanatorium. Er
hatte wieder in St. Paul’s Orgel gespielt und in Edinburgh unterrichtet, aber
er hat Arthrose in den Händen. Das hat seinem Orgelspiel ein Ende gemacht,
zumindest als Beruf.«
    »Er ist in einem Sanatorium für Arthrosekranke?« fragte Jack.
    »Nein, nein – in einer psychiatrischen Klinik.«
    »In einer Irrenanstalt?«
    »Heather sagt, es ist sehr nett dort. William gefällt es. Es ist
bloß sehr teuer«, sagte Miss Wurtz.
    »Meine Schwester hat angerufen, weil sie Geld braucht?« fragte Jack.
    »Sie hat angerufen, weil sie dich braucht, Jack. Sie wollte [993]  wissen, wie sie dich erreichen kann. Wie du weißt, gebe ich deine
Telefonnummer an niemanden weiter, obwohl ich in diesem Fall schwer in
Versuchung war. Ja, Heather braucht Geld – damit William auch weiterhin
glücklich und gut versorgt im Sanatorium leben kann.«
    Jacks Schwester sei achtundzwanzig. Als Dozentin an der University
of Edinburgh verdiene man nicht genug, um sich Kinder leisten zu können,
erklärte die Wurtz. Man könne nicht erwarten, daß Heather für Williams
Klinikaufenthalt aufkomme.
    »Heather ist verheiratet?« fragte Jack.
    »Aber nein!«
    »Sie haben doch etwas von Kindern gesagt, Caroline.«
    »Das war hypothetisch gesprochen und bezog sich auf ihr bescheidenes
Gehalt«, erklärte Miss Wurtz. »Heather hat einen Freund, einen Iren. Aber sie
wird ihn nicht heiraten. Sie hat lediglich gesagt, ihr Einkommen erlaube ihr
noch nicht einmal, über die Gründung einer Familie nachzudenken, und was
William angeht, braucht sie deine Hilfe.«
    Ich habe eine Schwester!, dachte Jack –
daß sie seine Hilfe brauchte (daß überhaupt jemand ihn brauchte), war die
schönste Neuigkeit!
    Noch besser war, daß Jacks Schwester ihren Vater liebte. Laut Miss
Wurtz betete sie William an. Aber sie hatte es nicht eben leicht gehabt, genau
wie er. Nachdem sich die Wurtz mit Jacks Schwester unterhalten hatte, hatte sie
eine spannende Geschichte zu erzählen.
    William Burns’ nächste große Liebe nach der Tochter des Kommandanten
sei – ohne diese an Gefühlstiefe zu übertreffen oder ihr auch nur
gleichzukommen – eine junge Frau gewesen, die er in Deutschland kennengelernt
und geheiratet habe. Barbara Steiner war Sängerin und machte William mit den
Liedern Schuberts bekannt. Das Singen deutscher Lieder, begleitet vom
Pianoforte – »dem Vorläufer des modernen Klaviers«, wie Miss [994]  Wurtz anmerkte
–, war neu und spannend für William. Es war für ihn keine zweitrangige

Weitere Kostenlose Bücher