Bis ich dich finde
der Hand
genommen und ihm den Weg gezeigt. Innerhalb von Edinburgh war Heather mit ihren
Eltern überallhin zu Fuß gegangen. Keiner in der Familie (auch nicht Heather,
als sie erwachsen war) fuhr Auto.
So wurde William Burns alleinerziehender Vater einer fünfjährigen
Tochter. »Wie ich William kenne«, sagte Miss Wurtz, »hat er sich auch die Schuld
am Tod der Mutter des armen Kindes gegeben.«
»Hat Heather das gesagt?« fragte Jack.
»Natürlich hat sie das nicht gesagt, Jack! Aber ich kenne William.
Er hat schon deiner Mutter alles verziehen, aber sich selbst gar nichts.«
»Und jetzt ist er verrückt?« fragte Jack.
[999] »Am besten redest du mit deiner Schwester, Jack. Triff dich mit
Heather, ehe es zu spät ist.«
Ob Heather ihn denn überhaupt treffen wolle, wollte er von der Wurtz
wissen. (Er fragte sich, ob er seiner Schwester zuerst einen Scheck schicken
sollte.)
»Du mußt sie anrufen und selbst mit ihr reden«, sagte Miss Wurtz.
»Ich bin sicher, ihr habt einiges gemeinsam.«
»Was denn, zum Beispiel?«
»Ihr habt beide eine schwierige Beziehung zu euren Müttern gehabt«,
sagte Miss Wurtz.
»Als kleiner Junge habe ich meine Mutter geliebt«, hob Jack hervor.
»Mein Gott, Jack, bestimmt hat auch deine Schwester als kleines
Mädchen ihre Mutter geliebt. Aber rückblickend hat sie zumindest auch bedacht,
was für ein schwieriger Mensch ihre Mutter sein konnte. Kommt dir das nicht
vertraut vor?«
Die Wurtz war der Ansicht, daß Jacks Vater seinen Sohn nicht im
Stich gelassen, sondern im Gegenteil für ihn gesorgt hatte. Williams Deal mit
Alice hatte sie zumindest dazu verpflichtet, nach außen hin alles richtig zu
machen. Jack hatte gute Schulen besucht, er hatte saubere Kleidung getragen, er
war weder geschlagen noch – jedenfalls soweit Alice wußte – mißbraucht worden.
Außerdem war die Wurtz der Ansicht – und sie hatte nie viel von
Jacks Mutter gehalten –, daß Alice ihn bis zu einem gewissen Grade vor den (wie
Miss Wurtz das nannte) »Erwachsenenentscheidungen« in ihrem eigenen dunklen
Leben beschützt hatte. (Wenn man einmal von Leslie Oastler und einigen ihrer
Freunde in der Welt des Tätowierens absah.)
»Du mußt mir sagen, wie es William geht, wenn du ihn findest«, sagte
Miss Wurtz. »Und bis dahin sei dankbar, daß du eine Schwester hast.«
»Ich habe eine Schwester«, wiederholte Jack.
Dies war auch die Nachricht, die er auf dem [1000] Anrufbeantworter von
Dr. Garcías Praxis hinterließ, weil es noch zu früh am Morgen war, um einen
Termin mit ihr zu vereinbaren. Die bloße Entdeckung, daß er eine Schwester
hatte, fiel in die Kategorie der von Dr. García sogenannten »unvollständigen
Informationen« – was bedeutete, daß Jacks Neuigkeit keinen Anruf bei ihr zu
Hause rechtfertigte.
Jack rief statt dessen seine Schwester Heather Burns an. In Santa
Monica war es erst sieben Uhr morgens – und zehn in Toronto, von wo aus Miss
Wurtz angerufen hatte. In Edinburgh dagegen war es bereits Nachmittag. Als
Heather abnahm, hörte man im Hintergrund Musik – Singstimmen und eine Orgel,
vielleicht auch Trompeten.
»Einen Moment, bitte«, sagte seine Schwester und drehte die
Lautstärke des CD-Spielers leiser.
»Hier ist Jack Burns, dein Bruder«, sagte er zu ihr.
»Hier ist Heather, genaugenommen deine Halbschwester«, sagte sie.
»Aber ich habe das Gefühl, dich zu kennen. Es ist fast so, als wäre ich mit dir
aufgewachsen. ›Wenn dein Bruder dich kennen würde, würde er dich lieben‹, hat
Daddy jeden Abend gesagt, wenn er mich zu Bett gebracht hat. Und dann war da
immer dieser Satz: ›Ich habe einen Sohn!‹ hat er ständig gerufen. ›Ich habe
einen Sohn und eine Tochter!‹ hat er ständig gesagt. Das konnte ganz schön
lästig sein, aber ich habe kapiert, was er meinte.«
»Ich wünschte, ich wäre mit dir aufgewachsen«, sagte Jack zu ihr.
»Das denkst du vielleicht nur«, sagte sie. Ihre Stimme war energisch
und gleichmäßig, mit weniger schottischem Akzent, als er erwartet hätte. (Sie
enthielt einen Anflug von irischem Akzent, fand Jack – vielleicht die Folge
jener Jahre in Belfast oder ihres irischen Freundes.) Vor allem hörte sie sich
nach einem sehr praktisch denkenden Menschen an.
»Ich möchte dich kennenlernen«, sagte er.
[1001] »Auch das denkst du vielleicht nur, Jack Burns«, sagte Heather.
»Es ist mir unangenehm, dich um Geld bitten zu müssen, aber ich brauche es.
Unser Vater braucht es, sollte ich vielleicht besser sagen –
Weitere Kostenlose Bücher