Bis ich dich finde
hatte, gab es keine Vergebung – noch nicht
einmal, wenn er sich hätte einreden können, daß Sally in Wirklichkeit Claudias
Geist war.
Er wollte gerade das Licht in der Küche ausmachen und zu Bett gehen,
als sein Blick auf die rudimentäre Einkaufsliste fiel, die er mit einem der
Magneten seiner Mutter – denen mit den japanischen Flashs – am Kühlschrank
befestigt hatte.
KAFFEE
MILCH
PREISELBEERSAFT
Nicht gerade ein großartiges Leben. Schon begann er zu erkennen,
daß Claudia ihr Versprechen, ihn heimzusuchen, gehalten hatte.
[987] Wenn man sich schämt, stellte Jack fest, wird das eigene Leben
zur Was-wäre-wenn -Welt. Claudias Tochter Sally war
fünfzehn. Daß ein Mädchen dieses Alters Streit mit seiner Mutter bekam, war
völlig normal. Mädchen im Teenageralter brauchten keinen triftigen Grund, um
auf ihre Mütter wütend zu sein. Was wäre, wenn das eigenwillige Mädchen – aus
allen möglichen Gründen, die vielleicht gar nichts mit den ursprünglichen
Motiven zu tun hatten, aus denen heraus sie ihn verführt hatte – schlicht und
einfach zu dem Schluß käme, daß er für sein Verbrechen Strafe verdiente oder
zumindest öffentlich bloßgestellt werden sollte?
»Tja, Jack, ich bin mir sicher, Ihre Scham ist größer als Ihre Angst
vor dem Strafgesetz von Kalifornien«, würde Dr. García später zu ihm sagen.
»Aber haben wir nicht fast alle in unserer Vergangenheit jemanden, der uns mit
einem Brief oder einem Anruf vernichten könnte?«
»Sie bestimmt nicht, oder, Dr. García?«
»Ich bin nicht der Patient, Jack. Ich muß auf solche Fragen nicht
eingehen. Sagen wir einfach, wir müssen alle lernen, mit irgend etwas zu
leben.«
Es war August 2003. Jacks Haus am Entrada Drive stand immer noch zum
Verkauf, aber er hatte das Gefühl, daß Claudias Geist bei ihm eingezogen war:
Es war, als lebte sie mit ihm zusammen. Wohin er auch ging, bevor oder nachdem
das blöde Haus verkauft worden war, Jack hatte keinerlei Zweifel, daß Claudias
Geist mitkommen würde.
Vor langer Zeit hatte Krung, der thailändische Kickboxer aus dem
Fitness-Studio in der Bathurst Street, einmal zu ihm gesagt: »Alte Sportler
müssen immer wieder was Neues finden, Jackie.« Jack war ein alter Sportler, der
bald etwas Neues würde finden müssen, doch jetzt war er auch ein alter Sportler
mit einem Geist.
Er mußte feststellen, daß man schlecht schläft, wenn man mit einem
Geist zusammenlebt. Er hatte sinnlose, aber verstörende Träume, aus denen er in
der Überzeugung erwachte, seine Hand [988] liege auf Emmas Tätowierung. (Jener
nicht durch eine Rose von Jericho getarnten, vollkommenen Vulva, die seine
Mutter ihr knapp unterhalb des Bundes ihres Slips auf die rechte Hüfte
tätowiert hatte.)
Auf Anraten seiner Immobilienmaklerin zog Jack aus. So konnte sie
sämtliche alten und häßlichen Möbel – größenteils Anschaffungen von Emma für
ihre erste Wohnung in Venice – sowie die Teppiche und Jacks Fitnessgeräte aus
dem Haus schaffen. Die Böden wurden abgeschliffen und die Wände weiß
gestrichen. Wenigstens war das Haus nun ein sauberes schäbiges Loch – und Jack
bezog bescheidene Räumlichkeiten im Oceana in Santa Monica.
Es handelte sich um eine im zweiten Stock gelegene Vierzimmersuite
mit Küche und Blick auf den Hof und den Swimming-pool. Er hätte sich auch für
Räumlichkeiten mit Blick auf die Ocean Avenue entscheiden können, aber das
Oceana war ein preiswertes Familienhotel. Jack mochte den Lärm der im Pool
spielenden Kinder. Einige der Familien waren asiatischer oder europäischer
Herkunft. Er lauschte auch gern den fremden Sprachen. Er akzeptierte das
Flüchtige seines Aufenthalts hier, denn auch er selbst war flüchtig,
vergänglich, fast schon nicht mehr existent.
Aus dem Entrada Drive nahm er so gut wie nichts mit. Drei Viertel seiner
Kleidung überließ er Goodwill, seinen Oscar gab er seinem Anwalt zur
Aufbewahrung.
Seinen neuesten Audi behielt er natürlich. Der Fitness-Raum im
Oceana war ein Witz, aber in Venice gab es zwei Fitness-Studios, die ihm
gefielen – und vom Oceana hatte er es bis zur Praxis von Dr. García in der
Montana Avenue nicht so weit wie vom Entrada Drive.
Im Oceana trug er sich als Harry Mocco ein. Wie üblich wußten die
wenigen wichtigen Menschen in seinem Leben, wo er zu erreichen war. Irgendwie
erschien es ihm passend (für einen [989] Mann in einem Übergangsstadium), daß er
kurz nach seinem Einzug von Leslie Oastler hörte. Sie rufe ihn an, weil
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