Bis in den Tod hinein
geheimen Täterwissen? Warum hat Drexler das gemacht?«
» Für den Fall, dass ich die Botschaft, die er dir ausgerichtet hat, nicht verstehe. Das war eine zweite Absicherung, damit er garantiert gefunden wird.«
» Er konnte ziemlich sicher davon ausgehen, dass wir das erst merken würden, wenn seine Kollegin schon tot war.«
» Zumindest war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, ja. Übrigens ist Linda deswegen mit Judith zu Drexlers Haus gefahren, um ihn davon abzuhalten, mir in letzter Sekunde doch noch zu verraten, dass sie seine Komplizin war. Sie konnte ja nicht ahnen, dass ich das längst wusste.«
» Jetzt mal wieder zu Drexler«, versuchte Olivia, Ordnung in Severins Ausführungen zu bringen. » Wie bist du überhaupt auf ihn gekommen?«
» Das war Moldenhauers Arzt«, antwortete Boesherz. » Ich hatte mich ja schon von Anfang an gefragt, woher Jack diese Fachkenntnisse auf so vielen verschiedenen Gebieten hatte. Nachdem mir der Arzt von seinem Case Report in einer medizinischen Fachzeitschrift erzählt hat, bin ich darauf gekommen: Jack war so umfassend gebildet, weil er sehr viele Texte mit sehr verschiedenen Inhalten gelesen hat. Und so etwas tun in erster Linie Menschen, die sich beruflich mit Texten befassen– also Lektoren, Korrektoren und Redakteure. Natürlich wird in einer Ärztezeitschrift nicht der Name des Redakteurs eines Artikels genannt, aber ich wusste ja, dass Linda ihre Finger im Spiel hatte. Der Rest war dann nur noch ein bisschen Logik und Ableitung.«
Boesherz atmete tief durch. Dann setzte er sich schließlich wieder zu Olivia ans Bett und lächelte sie an.
» Noch Fragen?«
» Zwei«, erhielt er zur Antwort.
Severin griff nach seinem Weinglas und schwenkte dessen Inhalt. Während er es gegen das Licht hielt, um das Farbenspiel des Quercus zu beobachten, wollte Olivia wissen: » Was wird denn jetzt mit Drexlers Buch? Hat Linda ein zweites Exemplar oder nicht?«
» Wir haben bisher keins gefunden, mehr weiß ich nicht. Was ist deine zweite Frage?«
Olivia zögerte zunächst.
» Was kannst du an mir sehen? Du hast mir die Frage immer noch nicht beantwortet«, sagte sie dann.
Während er noch Sekunden zuvor in seinen Ausführungen aufgegangen war, bemerkte Olivia jetzt, dass Severin ein ernstes Gesicht aufsetzte und anscheinend mit sich rang, ob er die Frage beantworten solle.
» Bitte«, setzte sie daher nach, und es war ihr anzumerken, dass es nicht nur bloße Neugier war, die sie antrieb.
» Also gut«, antwortete Boesherz schließlich und fasste beinahe väterlich ihre Hand. » Du sagst, du möchtest gar keinen Mann mehr haben, aber das stimmt nicht. Du achtest auf dein Aussehen, schminkst dich, treibst viel Sport. Eigentlich willst du anderen gefallen, aber eben nicht mit letzter Konsequenz.«
» Warum nicht?«
» Weil dein Herz bereits einem Mann gehört, den du einfach nicht loslassen kannst. Einem Orthodoxen, vermutlich vom Balkan. Du liebst ihn noch, obwohl er schon seit einem Jahr und fünfzehn Tagen nicht mehr da ist.«
Olivias Lippen begannen zu zittern.
» Als ich dich kennengelernt habe, hast du immer einen schwarzen Schal getragen, außerdem hast du nie Musik angemacht. Vor fünfzehn Tagen war der Schal dann plötzlich weg, und du hast angefangen, deine Billy-Talent- CD s zu hören.«
Boesherz beugte sich jetzt zu Olivia vor, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr leise ins Ohr: » Er ist tot, oder? Wenn ein Orthodoxer stirbt, muss sein Angehöriger ein Jahr lang ein geweihtes schwarzes Kleidungsstück tragen und darf keine Musik hören. Weil du selbst nicht orthodox bist, kann er kein Verwandter gewesen sein. Er war deine große Liebe.«
Anstatt zu antworten, erwiderte Olivia zunächst nur die Umarmung. Erst nach fast einer Minute sagte sie ganz leise: » Er hieß Marko. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich hier eigentlich noch soll.«
Es vergingen mehrere Minuten, in denen Severin und Olivia einander umarmten. Dann setzte Boesherz sich schließlich wieder aufrecht hin und sagte gedankenvoll: » Weißt du, Olivia, diese Stadt mag groß, einsam und total durchgedreht sein, und vermutlich sollten wir auch alle nicht hier leben. Aber wir können Berlin auch nicht einfach sich selbst überlassen. Sicher, wir mögen uns nach geliebten Menschen oder schöneren Orten sehnen, aber solange wir die Guten sind, dürfen wir uns nicht von der Dunkelheit vertreiben lassen. Denn wer, wenn nicht wir, sollte sich um diese Stadt kümmern?«
» Okay«, antwortete Olivia
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