Bis ins Koma
gucken und sich das Leben schön trinken können. Von anderen Ländern träumen, zum Beispiel.
Bine möchte später mal weg. Lateinamerika vielleicht. Sie denkt da an Santo Domingo oder Costa Rica. Ihm hingegen hat immer eher Asien vorgeschwebt. Die Buddhatempel. Und die Frauen haben Orchideenblüten im Haar. Das sanfte Lächeln der Burmesen. Wahrscheinlich, sagt Marvel, alles Klischees. Wahrscheinlich ist es da ganz anders. Aber egal. Hauptsache weg.
Außerdem, meint Bine, könne man da am Strand schlafen, weil es nachts nicht kalt wird. In vielen Ländern brauche man gar keine Wohnung und niemanden störe es, wenn man auf einer Parkbank schläft. Nur hier, in Deutschland, sei alles so blöde reglementiert.
Sie zaubert immer irgendwas Essbares aus ihrem abwaschbaren Rucksack, mal belegte Brote, mal Croissants, mal gebratene Hühnerschenkel. Alles nie richtig verpackt, sondern notdürftig in Servietten eingewickelt, von denen sie in ihrem Rucksack viele hat. Sie sind genauso dünn wie die Servietten, die auf den Tresen der Imbisse im Hauptbahnhof herumliegen. Marvel
glaubt, dass sie das Essen klaut, aber er fragt sie nicht, weil er nicht weiß, wie er reagieren soll, wenn sie Ja sagt.
Bine hat auch immer Alkohol dabei. Sie sagt, direkt nach der Arbeit braucht sie was Scharfes, um den klebrig-süßen Geschmack der ganzen Fruchtsäfte aus der Kehle zu kriegen. Am liebsten trinkt sie Wodka. Sie sagt, sie habe eine Quelle für billigen Wodka. Marvel glaubt, dass auch der Wodka geklaut ist. Aber er fragt nicht, aus dem gleichen Grund wie oben.
Er findet es einfach gut, mit ihr am Wasser oder auf einem Spielplatz oder unter einer Brücke zu sitzen, die Flasche hinund hergehen zu lassen, Chips aus der Tüte zu futtern und darauf zu warten, dass man sich besser fühlt, dass die unangenehmen Dinge von einem abblättern wie die Schalen einer Zwiebel. Nach einer Weile geht es ihm so gut, dass er Bine Sachen erzählen kann wie sonst noch niemandem.
Bine weiß inzwischen, dass sein Vater eine neue Frau hat. Und eine neue Tochter. Sie weiß, dass seine Mutter im Krankenhaus arbeitet und darüber nachdenkt, in eine Schönheitschirurgie-Praxis zu wechseln. Das findet sie geil.
Sie weiß auch über die Schule Bescheid. Wenn Marvel eine Arbeit geschrieben hat, will sie wissen, wie es gelaufen ist. Aber wenn er sich Sorgen macht, dann lacht sie. »Schule ist doch egal«, sagt sie. »In der Schule lernst du nicht, was du später brauchst. Alles, was ich heute kann, hab ich mir selbst beigebracht.«
»Und was ist das?«
Bine hat kurz die Stirn gerunzelt, dann gelacht. Dann ist sie aufgestanden und hat ihn gefragt, wie oft er einen flachen Stein über das Wasser springen lassen kann.
Er schaffte fünfmal.
Bine achtmal.
Wenn sie abends keine Zeit hat oder er auf eine Arbeit lernen
muss, geht er wenigstens nach der Schule mal kurz vorbei, um sich zu vergewissern, dass es sie noch gibt und dass sie immer noch hinter dieser albernen Saftbar mit den gestreiften Sonnenschirmen steht. Bine ohne e gehört zu den Menschen, die auftauchen und verschwinden, als hätte ein Zauberer sie in seinem Hut stecken.
»Wo wohnst du eigentlich?«, hat Marvel Bine mal gefragt.
Sie hat gelacht. »Wohnen? Was ist das denn?«
»Na, wohnen, wo ist deine Wohnung?«
»Wohnungen haben nur Reiche, so wie du.«
»Das ist doch Quatsch. Es gibt auch Sozialwohnungen für Hartz-IV-Empfänger.«
»Ich bin aber kein Hartz-IV-Empfänger. Ich lass mir doch von dem beschissenen Staat nichts schenken.«
»Also, einfache Frage: Wo schläfst du zum Beispiel heute Nacht?«
Bine tat, als dächte sie nach. Dann lachte sie. »Weiß noch nicht genau. Bei einer Freundin, schätzungsweise. Vielleicht bei Niki. Oder bei Estelle.«
»Du kennst eine Estelle? Echt?« Marvel war begeistert und hat ihr erzählt, dass er auch Estelle geheißen hätte, wenn er als Mädchen auf die Welt gekommen wäre.
»Sei froh, dass du nicht so heißt«, hat Bine gesagt.
»Wieso? Was ist denn mit Estelle?«
Bine hat ihn angesehen, hat gezögert, den Mund aufgemacht und wieder zu. Und dann nichts mehr.
Mehr war aus ihr nicht herauszukriegen.
Marvel glaubt, dass Bine gar nicht bei einer Freundin schläft, sondern mit einem Typen zusammenwohnt und ihm deshalb die Adresse nicht gibt. Er denkt, dass Bine meinen könne, dieser Typ würde ihm nicht gefallen. Und dann denkt er, dass sie damit recht haben könnte. Er weiß, dass ihre Mutter tot ist und
dass sie ihren Vater nicht kennt. »Der
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