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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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sie den Tag verbracht haben, sind wie Geister, meinte er, wie Gespenster.
    Er, Sven Keller, wolle aber für seinen Sohn kein unwirkliches Wesen sein, sondern ein geliebter Mensch. Deshalb freue er sich, wenn Marvin hin und wieder einfach mal vorbeikäme, um Hallo zu sagen.
    Marvel hat das früher auch gemacht. Sein Vater hat ihn dann herumgeführt, den Kollegen vorgestellt. Die haben ein paar witzige oder joviale Bemerkungen gemacht, festgestellt, dass er seit dem letzten Besuch schon wieder größer geworden sei, und ihm die üblichen Fragen gestellt, wie alt er jetzt sei, was er sich zum Geburtstag wünsche und ob die Schule Spaß mache.
    Das alles liegt einige Jahre zurück. So lange, dass es ihm fast vorkommt, als wäre es nie wahr gewesen. Damals war die Bildredaktion noch im ersten Stock, jetzt ist sie in den vierten umgezogen.
    Damals musste man auch noch nicht wie jetzt durch eine Sicherheitsschleuse, und man musste sich auch keinen Besucherschein beim Pförtner holen, der abgezeichnet und bei Besuchsende am Empfang wieder abgegeben werden muss.

    Damals waren die Leute auch fröhlicher, denkt Marvel, als der Lift mit lauter schweigenden Menschen nach oben gleitet.
    Aber das passt zu seiner Stimmung.
    Marvel will gar nicht, dass ihn jemand erkennt und ihm anerkennend auf die Schulter klopft. Er weiß selbst, dass er gewachsen ist. In drei Jahren ist das keine Kunst.
    Als er seinen Vater zuletzt hier besucht hat, war er zwölf. Jetzt ist er fünfzehn. Er trägt eine Ray-Ban-Sonnenbrille, Jeans von Republic und eine Sportjacke von Jack Wolfskin. Alles, inklusive der neuen Turnschuhe, hat er sich von seinem eigenen Geld gekauft. Er hat darauf geachtet, dass nicht einmal seine Boxershorts noch aus der Zeit sind, in der sein Vater für alles aufgekommen ist.
    Sven Keller wartet vor dem Fahrstuhl auf seinen Sohn. Er ist glatt rasiert. Das letzte Mal, als Marvel ihn sah, trug er einen Bart, in den sich schon ein paar graue Haare mischten. Marvel hat seinen Vater nie ohne Bart gesehen. Er wusste bis heute nicht, dass sein Vater am Kinn das gleiche Grübchen hat wie er. Das haut ihn irgendwie um. Mit einem glatt rasierten Gesicht sieht sein Vater irgendwie nackt aus. Es ist nicht einfach, cool zu bleiben, wenn einem sein Vater so gegenübersteht.
    Marvel ist der Einzige, der aussteigt, die anderen bleiben zurück, die Türen schließen sich hinter seinem Rücken. Vor ihm steht sein Vater und breitet lächelnd die Arme aus, als erwarte er, dass Marvel sich ihm an die Brust werfe.
    Marvel bleibt stehen, die Arme hängen herab. Er hat die Sonnenbrille nicht abgesetzt. Das hatte er sich vorgenommen, seinem Vater mit dieser Sonnenbrille gegenüberzutreten, damit er nicht so leicht in seinen Augen lesen kann. Und es war eine gute Entscheidung.
    »Das nenn ich aber eine Überraschung!«, ruft Sven Keller. »Mensch, Marvin!!!«

    Er lächelt immer noch, obgleich er doch sehen muss, dass Marvel nicht lächelt und auch keine Anstalten macht, irgendwie höflich zu sein.
    Sven Keller lässt irgendwann auch die Arme hängen.
    »Gut siehst du aus«, sagt er schließlich. »Mann, hab ich einen hübschen Sohn!«
    Offenbar hat Sven Keller sich in den zwei Minuten, die seit dem Anruf des Pförtners vergangen sind, vorgenommen, nur Positives zu sagen.
    »Tag, Papa«, sagt Marvel. Und schon ärgert er sich, denn er hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr Papa zu sagen. Papa sagen kleine Jungs. Er ist kein kleiner Junge mehr. Er wollte seinen Vater jetzt nur noch mit »Vater« anreden. Und schon beim ersten Mal hat er gepatzt. Egal. »Lange nicht gesehen«, fügt er noch hinzu.
    Eigentlich hatte er es flapsiger formulieren wollen. Er hatte sagen wollen: Lange nicht gesehen und trotzdem gleich erkannt. Das wäre aber nur witzig gewesen, wenn sein Vater nach wie vor den Bart gehabt hätte.
    »Das kannst du wohl sagen! Mensch!« Und jetzt legt Sven Keller doch den Arm um seinen Sohn, und weil gerade eine Frau, die Marvel entfernt bekannt vorkommt, den Flur entlanggeht, wagt Marvel nicht, die Hand seines Vaters wegzuschlagen, wie er es gern getan hätte. Die Frau trägt ein buntes Flatterkleid, das irgendwie in Kontrast steht zu ihren weißen, mit Kämmchen zurückgehaltenen Haaren und ihrer Nickelbrille. Sie hat ein nettes Gesicht.
    »Klärchen!«, ruft Sven Keller der Frau zu. »Wissen Sie, wer das ist? Erkennen Sie den wieder?«
    Die Frau bleibt stehen, mustert Marvel, schüttelt den Kopf.
    »Das ist Marvin! Das ist mein großer,

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