Bis ins Koma
Penner«, sagt sie, »interessiert mich auch nicht.«
»Weil er ein Penner ist?«
»Ich hab doch keine Ahnung, wer er ist.«
»Du kennst ihn gar nicht?«
»Nö.«
»Nicht einmal seinen Namen?«
»Nö.«
»Und wo er lebt, weißt du auch nicht?«
»Ich weiß noch nicht mal, ob er überhaupt noch lebt. Oder ob er noch gelebt hat, als ich zur Welt kam. Vielleicht hat meine Mutter sich das Zeug auch von der Samenbank geholt.«
Marvel hat noch nie ein Mädchen wie Bine getroffen. Er wusste, bis er sie traf, überhaupt nicht, dass es solche Mädchen gibt. Die sich irgendwie durchschlagen. Wenn im SCHLEMMERMARKT am Bahnhof Kontrollen vom Gewerbeaufsichtsamt stattfinden, dann schließt Bine schnell den Laden und verschwindet, bis die Luft wieder rein ist. Sie sagt, sie habe ihre Arbeitspapiere verloren. Und ihr Personalausweis sei auch weggekommen. Sie verliere ständig irgendwelche Sachen. Das kommt, weil sie so oft umziehe. Bine lässt sich nicht in die Karten gucken.
Deshalb wird er sie nie mit nach Hause nehmen. Er weiß, dass seine Mutter tausend Sachen an ihr auszusetzen hätte. Jemand, der in der siebten Klasse einfach die Schule verlassen hat! Jemand, der aus einem Mädchenheim ausgerissen ist, ohne festen Wohnsitz, ohne Geld für den Zahnarzt - an einem Schneidezahn ist ihr eine Ecke abgebrochen -, aber immer mit frisch gefärbten Haaren und neuem Ohrschmuck. Vielleicht auch geklaut, denkt Marvel.
Er stellt sich vor, wie Bine hinter ihrer Saftbar steht und die Läden dort genau kennt. Sie weiß, welche Verkäufer aufpassen, welche nicht, wann es so wimmelt, dass man die Übersicht
verliert, und wann man keinesfalls etwas Verbotenes tun darf. Manchmal wacht er nachts schweißgebadet auf, weil er geträumt hat, dass ein Mädchen mit feuerroten Haaren durch den leeren Hauptbahnhof rennt, eine Meute von Polizisten hinterher, jeder mit einem Schlagstock in der Hand. Und hechelnde Schäferhunde mit Kettenhalsbändern.
Wenn er sie dann am nächsten Tag mit ihrem apfelgrünen Käppi hinter der Saftbar sieht, ist er richtig erleichtert.
10
U nd dann, eines Abends, als er nach Hause kommt, liegt seine Mutter auf dem Sofa, wie früher. Sie hat ein nasses Tuch auf der Stirn und ihr rechter Arm hängt schlaff herab. Auf dem Tisch eine Flasche Rotwein und ein Glas. Seine Mutter trinkt eigentlich immer nur in Gesellschaft.
»Hallo Schatz«, murmelt sie schwach, als er ins Zimmer kommt und sich in den Sessel ihr gegenüber wirft. »Wo warst du? - Hast du etwa eine Fahne?«
»Quatsch. Ich hab mich mit Leuten von der Soap getroffen. Zufällig«, lügt Marvel.
Über Bine redet er nicht. Seine Mutter weiß noch nicht mal, dass er sich mit seinen Freunden nur noch selten trifft. Eigentlich, denkt Marvel, als er seine Mutter da so leblos auf dem Sofa sieht, wissen wir ziemlich wenig voneinander.
»Was ist denn los?«, fragt Marvel, als seine Mutter sich immer noch nicht rührt. »Hast du was? Bist du krank?«
Als seine Mutter den Kopf schütteln will, rutscht der nasse Waschlappen von ihrer Stirn. Sie öffnet die Augen. Marvel sieht, dass sie geweint hat. Er presst die Kiefer so fest zusammen, dass es knirscht. Das alles erinnert ihn so furchtbar an die Zeiten, die er überwunden glaubte.
»Ist irgendwas mit Papa?«, fragt er.
Seine Mutter hebt den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Weiß nicht«, murmelt Marvel. Dabei weiß er es genau. Er fühlt es.
»Du hast recht.« Seine Mutter lässt den Kopf wieder fallen.
»Dein Vater hat heute zweimal angerufen. Gut, dass du nicht da warst.« Sie schließt die Augen wieder und dreht den Kopf in die Polster.
»Was wollte er?«
Seine Mutter seufzt, öffnet die Lippen und schließt sie wieder.
»Sag schon!«
Seine Mutter seufzt noch tiefer. »Ach«, sagt sie, »ich hab eigentlich keine Lust. Dein Vater ist …«
Marvel springt auf. Das Blut pocht in seinen Schläfen. Er stopft die Fäuste tief in die Hosentaschen, um sicher zu sein, dass er nichts vom Tisch haut. »Mama, ich bin kein Kind mehr! Was wollte Papa?«
»Er sagt …« Seine Mutter fährt mit den Fingern über die Stirn.
Marvel spürt das Blut in den Schläfen, wie es klopft, wie es pocht. Er starrt seine Mutter an. Sie lächelt. Aber es ist ein trauriges Lächeln, ein hilfloses, trauriges Lächeln. Nur sein Vater ist in der Lage, so ein trauriges Lächeln auf das Gesicht seiner Mutter zu zaubern. Er könnte jetzt sofort aufstehen und hinfahren und seinem Vater … Nein, er könnte es nicht.
Er wirft sich in
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