Bis ins Koma
schließlich einen Scheidungsvertrag unterschrieben.«
»Wir haben eine Abmachung!«, sagt sein Vater ruhig, »aber in der steht, dass neue Umstände neue Absprachen verlangen. Wenn deine Mutter zum Beispiel arbeitslos würde, müsste ich mehr bezahlen. Und das würde ich auch tun.«
»Ich denke, du hast kein Geld.«
Marvel spürt, dass sein Vater, dessen Stimme die ganze Zeit sanft gewesen ist und leise - wie bei dem Wolf, denkt er, der Kreide gefressen hat -, langsam die Geduld verliert.
»Lieber Junge«, sagt er, nachdem er einmal tief Luft geholt hat, »findest du es richtig, dass ich Dinge, die wir als Eltern ausgehandelt haben, nun mit dir bespreche?«
Marvel holt tief Luft. »Ja, ich bin kein Kind mehr. Ich verdiene selbst Geld.«
»Schön. Das ist großartig.«
»Ja, das ist es. Aber mich geht es etwas an, wenn du Mama fertigmachst, weil ich nämlich mit ihr lebe.« Er möchte hinzufügen: weil ich ihre Tränen aushalten muss, ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit.
»Das weiß ich, dass du mit deiner Mutter lebst«, sagt Sven
Keller. »Daran musst du mich nicht erinnern. Ich habe es schmerzlich erfahren, was es heißt, wenn Vereinbarungen nicht eingehalten werden.«
»Welche Vereinbarungen?«, fragt Marvel.
»Na, zum Beispiel, dass wir uns weiterhin sehen, dass du mich besuchst. Dass wir ein paar Ferientage zusammen verbringen. Dass du deine kleine Schwester kennenlernst. All so was.«
»Das liegt nicht an Mama. Das habe ich selbst so beschlossen.«
Sein Vater sieht ihn fassungslos an. »Sag das noch mal: Was hast du beschlossen?«
»Dass ich dich nie mehr sehen will«, sagt Marvel trotzig.
Es ist plötzlich ganz still im Raum. Marvel bemerkt, dass aus dem Faxgerät unentwegt Papier quillt, das sich staut und in einem Wust zu Boden fällt. Da sein Vater sich nicht darum kümmert, bückt er sich auch nicht.
Plötzlich verlässt sein Vater den Schreibtisch und geht auf ihn zu, schaut ihm ins Gesicht. »Sieh mich an, Sohn«, sagt er leise.
Marvel hebt den Kopf.
»Das tut doch weh«, sagt sein Vater sanft.
Marvel verzieht das Gesicht.
»Das tut doch weh, wenn man sein Herz so vergewaltigt«, sagt er.
Marvel dreht den Kopf weg.
Da legt sein Vater die Hände auf seine Schulter und zieht ihn einfach an sich. Marvel ist so überrascht, dass er sich nicht wehrt. Plötzlich liegt sein Kopf an der Schulter seines Vaters und die Hände seines Vaters streichen sanft, aber nachdrücklich über seinen Rücken. Auf und ab. »Du fehlst mir so, mein Junge«, murmelt sein Vater. »Und wie du mir gefehlt hast. Ich war ganz krank.«
Marvel presst die Lider zusammen. Er holt fast gar nicht
Luft, weil er sonst den Geruch seines Vaters einatmen müsste. Er kennt den Geruch so gut. Der Geruch ist so vertraut, das ist so merkwürdig. Er hat gar keine Kraft mehr in seinen Armen, um den Vater wegzustoßen, oder in seinem ganzen Körper, um sich von ihm wegzudrehen. Er steht, den Kopf auf die Schulter seines Vaters gelegt, und lässt sich den Rücken streichen von diesen Händen, die er auch so gut kennt. Die ihn so lange nicht berührt haben.
»Ich hab deine Mutter immer und immer wieder gebeten, dich zu mir zu schicken«, murmelt sein Vater. »Ich hab sie angefleht, ich hab Druck gemacht, das gebe ich zu. Das hab ich nicht gewollt, dass wir uns so voneinander entfremden …«
Marvel schluckt. Alles, alles darf jetzt passieren, aber die Tränen, die er in sich aufsteigen spürt, dürfen nicht raus! Er konzentriert sich auf nichts anderes, während sein Vater redet und redet und redet.
Plötzlich fliegt die Tür auf und eine fröhlich hohe Stimme ertönt: »Sven, deine Gäste verdursten!«
Da windet Marvel sich verlegen aus der Umarmung seines Vaters, schüttelt sich wie ein Hund, um verzweifelt irgendetwas zu tun, um seine Verlegenheit zu überspielen. Er bückt sich und sammelt die Faxe ein.
Sein Vater geht auf die Frau zu, die in der Tür steht, gibt ihr einen Kuss und sagt: »Das ist mein Sohn Marvin. Marvin, das ist meine Kollegin Rosa Kluge.«
Marvin erhebt sich, die Sekretärin strahlt ihn an.
»Das ist also Marvin! Dein Vater hat so viel von dir erzählt! Wie nett, dass du gekommen bist!«
Sein Vater hat viel von mir erzählt?, denkt Marvel. Komisch. Das ist bestimmt gelogen.
»Wo soll das Zeug hin?«, fragt Marvel mit den Papieren in der Hand.
»Komm, gib es mir!« Die Kollegin streckt die Arme danach aus.
»Das sind die Unterlagen von der Staatskanzlei, die wir angefordert haben«, sagt Marvels
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