Bis ins Koma
erwachsener Sohn! Was sagen Sie nun?«
»Hallo, Marvin«, sagt Klärchen. »Ich kann dir keine Hand geben.« Marvel sieht jetzt erst, dass sie einen Stapel riesiger Seiten in der Hand hält. »Aber schön, dich mal wieder zu sehen.«
Dann ist sie weg und Marvel wieder mit seinem Vater allein.
»Du machst ja Sachen«, sagt sein Vater, nachdem er ihn lange angesehen hat, als erwarte er, dass Marvel endlich die Sonnenbrille abnimmt.
»Ich?«, fragt Marvel. »Wieso denn ich?«
»Na ja, die Schauspielerei. Das ist ja was! Und ich hatte keine Ahnung! Nachbarn haben mich darauf aufmerksam gemacht. Du kennst doch die Knolles noch? Die von gegenüber? Die haben dich gleich in der ersten Folge gesehen. Danach haben Caren und ich natürlich immer geguckt. Das finde ich wirklich großartig. Ich hab deine Mutter angerufen und ihr …«
»Genau«, sagt Marvel, »deshalb bin ich hier.« Er nimmt die Sonnenbrille ab.
In diesem Augenblick fliegt eine Tür auf und ein Mann stürmt heraus. Er redet mit einem anderen Mann, der mit den Armen wedelt, als versuche er etwas zu klären. Die beiden eilen auf den Fahrstuhl zu.
Sven Keller zieht Marvel etwas zur Seite. Der dickere Mann sagt: »Tag, Sven.«
Marvels Vater räuspert sich und reckt den Kopf. »Klaus«, sagt er, »ich möchte dir meinen Sohn vorstellen.«
Der dünnere Mann drückt unentwegt auf die Knöpfe. Aber kein Lift kommt.
»Dein Sohn?« Der Dicke streckt ihm die Hand hin, ohne ihn wirklich anzusehen. Mit seinen Gedanken scheint er vollkommen woanders zu sein.
»Kommst du zum Gratulieren?«, fragt der Dünne ihn.
Und da fällt es Marvel ein, dass sie November haben und
dass sein Vater Skorpion ist und dass dies heute vielleicht gerade sein Geburtstag ist, denn sein Vater hat im November Geburtstag, aber er weiß verdammt noch mal gar nicht, welchen Tag sie heute haben…O scheiße, denkt Marvel, und als der Lift hält und die Türen sich öffnen, wäre er am liebsten zu dem Dicken und dem Dünnen in den Lift gesprungen und abwärtsgefahren.
»Wir sehen uns gleich noch!«, ruft der Dicke, bevor die Lifttüren wieder zugehen.
»Du hast heute Geburtstag«, sagt Marvel. Er sagt es fragend.
Sein Vater nickt. Er lächelt.
»Tut mir leid«, sagt Marvel.
»Was tut dir leid?«
»Dass ich ausgerechnet heute gekommen bin.«
»Nein, wieso? Ist doch wunderbar! Was glaubst du, wie ich mich gefreut hab, als der Pförtner anrief und sagte: Ihr Sohn ist da.«
Marvel schluckt. Er schaut auf den Boden. Die Stimme seines Vaters hat sich kein bisschen geändert. Er trägt immer noch die gleichen Wildlederschuhe. Immer noch die Cordhosen. Er sieht, bis auf den Bart, der nicht mehr da ist, genauso aus wie damals, als Marvel ihn das letzte Mal gesehen hat. Als der Umzugswagen kam und sein Vater ihn in den Arm genommen hat und gesagt: »Zwischen uns ändert sich nichts.«
»In der Tat«, erklärt sein Vater etwas verlegen, als Marvel keine Anstalten macht, zu sprechen, »startet gleich eine kleine Feier. Nichts Besonderes. Aber die Kollegen erwarten das von mir. Ich geb an meinem Geburtstag in der Redaktion immer einen aus. Das weißt du noch, oder?«
»Nein.«
»Nur ein paar gute Kollegen, mit denen ich eng zusammenarbeite.
Ein paar kennst du noch …« Er zählt einige Namen auf, die in ihm etwas zum Klingen bringen. So, als würde man ihn plötzlich an eine Gutenachtgeschichte erinnern, die er oft gehört hat, oder an ein Lied, das im Kindergarten gesungen wurde. Marvel fröstelt plötzlich.
»… und der Klaus, den du eben gesehen hast, das ist mein Chef, weißt du ja. Der kommt kurz vorbei und sagt bestimmt ein paar Worte, das tut er immer …« Marvel spürt, dass sein Vater ihn anschaut, erwartungsvoll, als er eine Pause macht. Aber Marvel gibt mit keiner Geste zu erkennen, was in ihm vorgeht. Er weiß es ja selbst nicht. Der Körpergeruch seines Vaters ist sehr intensiv. Sein Vater ist ein starker Raucher. Er hat immer diesen kalten Rauch in den Kleidern, sodass seine Mutter früher schon immer gesagt hat: Wenn du aus dem Büro kommst, häng deine Jacke bitte nicht in die Garderobe, sondern draußen auf dem Balkon an den Haken. Dafür ist er doch da.
»Es gibt Sekt und Bier und Bouletten, nichts Besonderes. Aber natürlich …« Jetzt legt Sven Keller den Arm wieder um seinen Sohn. »… bist du herzlich eingeladen.«
»Danke.« Marvel räuspert sich. »Aber ich hab nicht so viel Zeit. Ich hatte, ehrlich gesagt, vergessen, dass heute dein Geburtstag ist, sonst wär
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