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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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konnte. Dabei hat er sich doch so bemüht.
    »Okay«, sagt Marvel.
    »Und ich regele das mit dem Geld. Natürlich bekommt deine Mutter weiter Unterhalt.« Sein Vater begleitet ihn zum Lift wie einen Geschäftsfreund. Sie verabschieden sich mit Handschlag.
    »Danke, danke!«, flüstert der Vater, als der Fahrstuhl kommt.
»Danke dafür, dass du diesen großen Schritt gemacht hast und zu mir gekommen bist.«
    Marvel steht im Lift. Als sich die Türen schließen, sieht er, wie sein Vater sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen wischt, als wären da Tränen.

11
    M arvel erzählt seiner Mutter nicht, wo er gewesen ist. Auch als sie ihm drei Tage später sagt, dass der Vater den Unterhalt doch überwiesen hat, sagt Marvel nichts.
    Er will erst einmal den Sonntag abwarten. Der Sonntag liegt ihm im Magen. Dennoch ist er fest entschlossen, hinzufahren. Und er ist ebenso entschlossen, nach einer Minute wieder zu gehen, wenn ihm irgendwas nicht passt.
    Nachts schläft er schlecht. Alte Geschichten, die er längst vergessen glaubte, mischen sich in seine Träume, quälen ihn mit ihren Attacken wie lästige Stubenfliegen.
    Mit seinen Freunden will er nicht darüber reden. Das ist alles noch zu unausgegoren. Er hat keine Ahnung, wie das ablaufen wird. Vielleicht gibt es ein Chaos. Und dann würde er sich wünschen, dass niemand davon erfahren hat.
    Andererseits weiß er, dass Bully sich freuen würde, wenn Marvel mit seinem Vater wieder Kontakt hat. Bully, Mauki und Jojo, die er eigentlich nur noch in der Schule sieht, waren oft bei ihm zu Hause. Die können sich bestimmt noch an das Haus erinnern, an das Wohnzimmer, den Keller mit der Tischtennisplatte. Sein Mansardenzimmer mit der Fensterschräge. Einmal hat er vergessen, das Fenster zu schließen, und als er in der Schule war, gab es einen Wolkenbruch. Alles stand unter Wasser. Der Hamster ist in seiner Kiste um sein Leben geschwommen. Nur noch seine gelbe Nasenspitze guckte raus. Hamster können nicht gut schwimmen und geraten schnell in Panik, dann sterben sie an einem Herzinfarkt. Er hat Oskar in ein Frotteehandtuch
gewickelt und auf seinem Schoß trocken gerieben. Jojo hat dem Hamster seinen Schokoriegel geschenkt, aber den wollte er nicht. Sie haben beide stundenlang Angst gehabt, dass der Hamster einen Herzinfarkt bekommt. So etwas schweißt zusammen.
    Jojos Mutter, Maukis Mutter und die Mutter von Bully kennen diese Caren bestimmt. Sie leben ja alle um die Ecke. Mit dem Fahrrad waren das früher fünf Minuten, wenn sie sich besuchten. Sie kaufen im gleichen Supermarkt ein und im gleichen Schlecker. Sie treffen sich samstags auf dem Markt und auf dem Stadtteilfest. Marvel ist nie mehr auf das Stadtteilfest gefahren. Obwohl er es da früher super fand.
    Vielleicht haben Jojos und Bullys Eltern mit der neuen Frau seines Vaters längst Kontakt und sagen es ihm nur nicht.
    Marvel hat niemanden, mit dem er darüber reden kann, außer Bine. Er möchte wissen, was sie glaubt, wie er sich fühlen wird, wenn er da auf einmal in seinem Mansardenzimmer steht, das jetzt bestimmt rosa gestrichen ist. Alle kleinen Mädchen haben rosa Zimmerwände. Gruselig.
     
    Gleich nach der Schule fährt Marvel zum Hauptbahnhof und steuert die Saftbar an. Aber statt Bine steht da ein dicker Mann, der mürrisch die Kunden abfertigt. Wenn er die Saftpresse bedient, läuft ihm der Fruchtsaft über seine dicken Finger. Marvel guckt eine Weile angewidert zu, bis er den Mut findet, den Mann anzusprechen.
    »Hallo«, sagt Marvel.
    Der Mann schaut ihn nur mürrisch an.
    Marvel lächelt freundlich. Er will schließlich etwas von dem Typen. »Guten Tag«, sagt er.
    »Wenn ich jedes Mal Hallo, Guten Tag sagen würde«, sagt der muffige Typ, »hätte ich Fransen am Mund.«

    »Früher hat ein Mädchen hier den Saft verkauft.«
    Der Mann schweigt.
    »So eine mit roten Haaren. Sie heißt Bine.«
    »Ja, und?«
    »Wo ist sie?«
    »Sag mal, junger Mann«, der Dicke wischt seine bespritzten Unterarme mit einem Spültuch ab und mustert Marvel, »wenn du eine Auskunft willst, geh zur Information, ja?«
    »Ich will eine Auskunft über das Mädchen, das hier gearbeitet hat.«
    »Jetzt arbeite ich hier.«
    »Das seh ich. Kommt sie nicht wieder?«
    »Bin ich Jesus, Mann? Willst du nun was trinken oder nicht?«
    Marvel erwidert darauf nichts, sondern dreht sich einfach weg.
    Jetzt ist der Augenblick gekommen, vor dem er sich immer gefürchtet hat: dass Bine eines Tages nicht mehr da ist, dass sie sich in Luft

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