Bis ins Koma
ich morgen oder so gekommen.«
Sein Vater hört auf zu lächeln. Bislang hat er wohl gehofft, Marvel sei gekommen, um Frieden mit ihm zu schließen, an seinem Geburtstag wieder den Kontakt mit dem Vater zu suchen. Hat vielleicht gedacht, es könne wieder so sein wie früher. Als wäre dazwischen nichts gewesen, keine Schmerzen, keine Trauer, keine Wut, kein ohnmächtiger Zorn. Aber jetzt allmählich kann er die Wirklichkeit nicht mehr verdrängen. Er muss Marvel nur ansehen, um zu begreifen, dass er sich geirrt hat. Auch er senkt den Kopf, als bedrücke ihn etwas. Und auch er
räuspert sich jetzt, als habe er einen Frosch im Hals. »Wollen wir in mein Büro? Da sind wir allein.«
Marvel nickt.
Sie gehen, einen halben Meter Abstand zwischen sich lassend, den Flur entlang. Das Schweigen schafft eine Luft, in der man kaum atmen kann. Aus den Büroräumen dringen Gesprächsfetzen, das Läuten von Telefonen. Jemand brüllt: »Der Scheißdrucker geht schon wieder nicht!«
Schließlich drückt Sven Keller eine Tür auf. »Bitte, mein Sohn.«
Und dann steht Marvel in einem engen, vollgestopften Zimmer, in das Lichtstreifen fallen, verursacht durch eine Lamellenmarkise, die halb heruntergezogen ist.
Auf dem Schreibtisch ein paar Geschenke, die wie verpackte Bücher aussehen, Blumensträuße.
»Wir feiern im Konferenzraum«, erklärt Marvels Vater, »meine Bude ist zu klein. Alle Büroräume werden immer kleiner. Die Verlage müssen sparen.«
Jetzt fängt er schon vom Geld an, denkt Marvel. Aber seine Aufmerksamkeit wird von etwas anderem in Anspruch genommen. Auf dem Schreibtisch steht ein Foto von der blonden Frau, die ein Kind auf dem Arm hat. Sie lächelt in die Kamera, das Kind streckt seine Arme aus.
Als Sven Keller sieht, dass Marvel das Bild anstarrt, geht er zum Schreibtisch und legt das Bild wie unabsichtlich hin. So, dass das Foto nach unten liegt. Niemand lächelt jetzt mehr hier im Raum.
Sein Vater stöhnt einmal hörbar auf, als tue ihm in der Brust etwas weh, dann schließt er die Augen, geht zum Fenster, öffnet es einen Spalt. »Die Luft hier ist immer stickig.« Er geht wieder um den Schreibtisch herum, dabei muss er einen überquellenden Papierkorb zur Seite schieben, hebt einen Stapel Fotokartons
von dem einzigen Stuhl, der noch im Raum ist. Seine Bewegungen sind eckig, irgendwie angespannt.«Willst du dich setzen? Bitte sehr.«
Marvel bleibt lieber stehen. Im Sitzen fühlt er sich kleiner. Sein Vater will wahrscheinlich, dass er sich setzt, damit die alte Ordnung wiederhergestellt ist: der große Vater, der auf seinen kleinen Sohn herabschaut.
Das Spiel ist ausgespielt, denkt Marvel.
Aber wie das neue Spiel, für das er gekommen ist, gehen soll, weiß er noch nicht.
Sein Vater wischt mit der Hand eine Ecke seines Schreibtischs frei und setzt sich, sodass ein Bein auf dem Boden steht, das andere über der Tischkante in der Luft hängt. Früher hätte er in so einer Situation sofort nach einer Zigarette gegriffen, aber Rauchen ist, wie überall in geschlossenen Räumen, wohl auch hier inzwischen verboten.
»Also?«, fragt Sven Keller. »Warum bist du gekommen, wenn es nicht war, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.«
Marvel räuspert sich. Er würgt unter Anstrengungen den Satz heraus: »Mama sagt, du hast den Unterhalt nicht gezahlt.«
Sein Vater starrt ihn an. Fassungslos. Lange. Er mustert seinen Sohn, der vor ihm steht und nicht weglaufen kann und nicht weglaufen will, wie ein interessantes Objekt, das ihm noch nie vorher unter die Augen gekommen ist.
»Das sagt deine Mutter?«
»Ja.«
»Und was hat sie noch gesagt?«
Marvel überlegt, ob er auf diese Frage überhaupt antworten soll. Aber schließlich bringt er auch noch diesen Satz hervor: »Sie hat gesagt, dass du wieder ein Kind kriegst.«
»Wir haben inzwischen übrigens geheiratet. Schade, dass du nicht zur Hochzeit kommen wolltest.«
Marvel blinzelt. Es ist wie beim Boxkampf, wenn der Gegner einen plötzlich mit einem Haken überrascht. Was für eine Hochzeit?, denkt er. Was für eine Einladung? Ich hab nie eine Einladung gesehen.
Er beschließt, obwohl sein Vater ihn intensiv mustert, seine Mimik nicht zu verändern.
»Ist jetzt egal«, sagt Marvel. »Ich wollte dir nur sagen, dass du für mich nicht mehr zahlen musst.«
»Ach.«
»Ja!«, ruft Marvel trotzig. »Wenn dir deine neue Familie so viel wichtiger ist, dann macht das auch nichts. Ich komm allein klar. Aber ich will, dass du Mama weiter unterstützt. Ihr habt
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