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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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Vater zu ihr. »Ich wette, da ist nichts Verwertbares dabei.«
    »Okay«, erwidert Rosa fröhlich, »ich kümmere mich drum. Also: Wir warten!« Sie zwinkert Marvin noch einmal zu und verschwindet dann mit dem Stapel Papiere.
    »Vielleicht doch ein Glas Sekt?«, fragt sein Vater. »Oder trinkst du nur Bier?«
    »Nee, danke. Für mich nichts.«
    »Willst du nicht wenigstens mit mir anstoßen? Na?«
    Marvel schüttelt den Kopf. »Ich trink keinen Alkohol.« Er weiß selbst nicht, warum er das sagt. Vielleicht, um seinen Vater zu bestrafen.
    Er kann sich an eine Autofahrt erinnern, als sie auf einem Grillfest waren. Da hatte sein Vater getrunken und nur noch gelallt und konnte nicht mehr geradeaus gehen und Marvel sah, dass er es kaum schaffte, die Autotür aufzukriegen. Marvel hatte schreckliche Angst, aber sein Vater bestand darauf, zu fahren. Es gab deshalb Streit zwischen den Eltern. Sein Vater hat auf der Rückfahrt am Steuer laut gesungen, irgendwelche blöden Seemannslieder, die ihm auf einmal wieder eingefallen waren. Es war eine schmale Chaussee mit Bäumen, und wenn seine Mutter nicht ins Steuer gegriffen hätte, wären sie an einem dieser Bäume gelandet. Manchmal sieht er diese Straße im Traum.
    »Keinen Alkohol? Wirklich? Ich dachte … Gott sei Dank! Es gibt so viel Storys über Komasaufen … Flatratesaufen … wir berichten in unserer Zeitung fast täglich über neue Fälle. Ich hatte immer Angst um dich.«
    Marvel begegnet dem Blick des Vaters kühl. Er fühlt sich in
diesem Augenblick dem Vater überlegen. Als habe er etwas gefunden, was der Vater nicht hat.
    »Was alle tun, muss ich doch nicht nachäffen«, sagt Marvel. »Ich behalte meine grauen Zellen lieber noch ein bisschen.«
    »Gut. Richtig.«
    »Außerdem schmeckt mir das Zeug nicht«, legt Marvel nach. Und in dem Augenblick, wo er das ausspricht, glaubt er auch daran. Er glaubt, den Geschmack von Jägermeister, Wodka und Rum nicht zu ertragen. Er fühlt sich gut bei dem Gedanken, er sei eines dieser Kids, die nur Mineralwasser trinken. Er kommt sich auf einmal ganz sauber vor, ganz klar. Er glaubt an das, was er sagt.
    »Ich bin so froh«, sagt sein Vater. »Marvin, ach, Marvin.«
    Marvel schweigt. Er fühlt sich gut, er will das noch ein bisschen auskosten, dieses Gefühl, vom eigenen Vater bewundert zu werden.
    Sein Vater lacht und klopft ihm anerkennend auf die Schulter. »Das gefällt mir. Ich muss zugeben, dass ich in deinem Alter schon manchen Absturz erlebt hab. War nicht schön. War dumm. Aber Mineralwasser gibt es unten bestimmt auch.«
    »Nee, danke«, sagt Marvel, »ich muss wirklich los.«
    Wieder diese verlegene Pause.
    »Also gut.« Sein Vater legt ihm flüchtig die Hand an die Wange und auf einmal brennt diese Stelle. »Ich bin trotzdem froh, dass du gekommen bist. Weißt du, ich finde, wir könnten doch einfach versuchen, unsere Beziehung auf eine andere Ebene zu stellen.«
    Was soll das für eine Ebene sein?, denkt Marvel. Aber er wartet.
    »Ich weiß, dass auch Caren sich riesig freuen würde, wenn du mal vorbeikommen würdest. Du hast eine kleine Schwester, weißt du das? Und die ist süß. Sie weiß, dass sie einen großen
Bruder hat. Das hab ich ihr vom ersten Tag an erzählt. Ich hab ihr immer gesagt: Eines Tages kommt dein großer Bruder Marvin. Den findest du ganz toll.«
    Marvel lächelt. Er will nicht lächeln. Aber es passiert einfach so. Er hat keine Kontrolle über dieses Lächeln.
    Als sein Vater das sieht, seufzt er ganz tief. Und wieder ist es Marvel, als höre er einen Schmerz, der von ganz innen nach außen dringt. »Ach! Mein Sohn!« Dann überlegt er einen kurzen Moment und sagt: »Besuch uns doch einfach.«
    »Wann denn?«, fragt Marvel. Er fragt das nicht selbst, etwas in ihm hat diese Frage gestellt. Er ist ganz erschrocken, als er sich sprechen hört.
    »Wie wäre es mit Sonntagnachmittag? Willst du Sonntagnachmittag kommen? Ich sag jetzt nicht zu Kaffee und Kuchen, weil das so spießig klingt.«
    »Sonntagnachmittag? Diesen Sonntag oder irgendeinen Sonntag?«
    »Diesen Sonntag«, sagt Sven Keller entschieden. »Wir machen gleich Nägel mit Köpfen. Diesen Sonntag, sechzehn Uhr. Ungefähr. Wie passt dir das?«
    Marvel räuspert sich. »Ich glaube, gut.«
    »Schön.« Das Lächeln seines Vaters hat so etwas Herzliches, das Marvel an früher erinnert. Es erinnert ihn daran, dass es eine Zeit gab, in der er seinen Vater sehr geliebt hat. Es ist merkwürdig, dass er diese Erinnerung nicht auslöschen

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