Bis unter die Haut
aufgebracht. »Es stimmt, ich habe mit meinem Bruder geredet. Wir haben geredet, wie wir es seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr getan haben. Ist es das, was du mit Happy End meinst? Weil – soll ich dir mal was sagen? Darüber weiß er immer noch nicht Bescheid.« Sie deutet auf die Rasierklingen. »Obwohl wir sonst über alles gesprochen haben, konnte ich es ihm nicht sagen. Noch nicht. Es wäre einfach zu viel für ihn. Aber eines Tages, eines Tages werde ich es ihm vielleicht erzählen. Weil ich es irgendwann wahrscheinlich nicht mehr aushalte, dass dieses Geheimnis wie eine Mauer zwischen uns steht. Und dann wird er hoffentlich besser damit klarkommen als jetzt. Ist das Happy End genug für dich? Aber weißt du was? Es ist völlig egal, wann ich es ihm erzähle, es wird ihm immer schrecklich wehtun. Ich fühle mich dann vielleicht ein bisschen besser, aber für ihn wird eine Welt zusammenbrechen. Und ich erzähl dir noch etwas. Kann schon sein, dass ich meinen Bruder nicht so verloren habe, wie ich es dachte, aber meine Eltern sind tot. Sie sind nicht mehr da. Es spielt keine Rolle, wie viel ich mit meinem Bruder rede, es spielt keine Rolle, wie viel ich ihm erzähle, nichts wird daran etwas ändern. Ist es das, was du dir unter einem Happy End vorstellst?«
»Nein. Natürlich nicht. Aber soll ich dir jetzt mal was sagen? Daran kannst du nichts ändern.« Er schiebt ihren rechten Ärmel nach oben. »Daran schon.«
Willow sieht ihren Arm an. Auf dieser Seite sind die Schnitte schon ziemlich verblasst. Es sind fast mehr weiße Linien als rote zu sehen, und sie wirken beinahe … harmlos, so als hätte sie sich wirklich nur gekratzt oder mit einem übermütigen Kätzchen gespielt. Als sie den Ärmel wieder herunterziehen will, hindert Guy sie daran. Sie kommt sich schrecklich entblößt vor, doch dann spürt sie plötzlich etwas, das sie schon beinahe vergessen hatte, nämlich, wie gut es sich anfühlt, die Sonne auf der nackten Haut zu spüren, und sie lässt den Ärmel oben.
»An dem Tag, damals in der Bibliothek«, sagt Guy nach einer kleinen Pause, »da hast du gesagt, wenn die Umstände anders wären, würdest du damit aufhören wollen. Jetzt sind die Umstände anders, Willow. Warum willst du trotzdem nicht aufhören?«
»Ich weiß es nicht!« Sie schreit es beinahe heraus und erschrickt selbst darüber, dass sie schon wieder in Tränen ausbricht. »Ich dachte, dass ich dann aufhören würde, aber so einfach ist es nicht!«
»Hey«, sagt Guy sanft. »Ich wollte dich auf keinen Fall schon wieder zum Weinen bringen.« Es scheint ihm aufrichtig leidzutun. Er rückt ein Stückchen näher an sie heran und legt den Arm um sie. »Ich wollte nicht …«
»Das solltest du aber!« Willow schiebt ihn von sich weg, damit sie ihn anschauen kann. »Jedes Mal, wenn ich weine, ist es … als ob …«
Wie soll sie ihm erklären, dass jede Träne, die sie weint, sie weiter von den Rasierklingen entfernt, die jetzt zwischen ihnen auf der Mauer liegen. Wie soll sie ihm erklären, dass sie gleichzeitig eine Heidenangst davor hat. Dass sie, obwohl sie sich von ihrem Hilfsmittel befreien möchte, nicht weiß, ob sie das, was sie jetzt durchmacht, ohne aushalten kann. Dass sie weiterhin das Gefühl braucht, selbst bestimmen zu können, wie viel Trauer sie zulässt.
»Wie ist es jedes Mal, wenn du weinst?«, fragt Guy und nimmt ihre Hand.
»Ich … Ich weiß nicht, ob ich stark genug dafür bin«, sagt sie unter Tränen. »Du denkst, dass das Ritzen wehtut? Du hast keine Ahnung!« Willow greift nach der Rasierklingenpackung und presst sie an sich. »Die hier haben mich davor bewahrt, den wahren Schmerz spüren zu müssen! Ja! Ich hab wirklich gedacht, wenn ich weinen könnte, wenn ich die Trauer spüren könnte … dass ich dann damit aufhören könnte. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher …«
»Willow.« Guy beißt sich auf die Unterlippe. »Du bist jetzt mit mir zusammen.« Trotz ihrer unendlichen Verzweiflung, dringen seine Worte bis in ihr Innerstes vor, und ihr wird plötzlich ganz warm, aber er ist noch nicht fertig mit dem, was er sagen will. »Du kannst jetzt nicht mehr mit denen da zusammen sein.« Er schaut kurz auf die Rasierklingen, die sie immer noch an sich drückt. »Ganz egal, wie viel sie in der Vergangenheit für dich getan haben.«
»Du hast von Anfang an Bescheid gewusst«, sagt Willow. »Du hast am Telefon gehört, wie ich es getan habe, du hast mir sogar dabei zugeschaut. Was ist jetzt so
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