Bis unter die Haut
Eltern gestorben sind. Das wäre doch totaler Wahnsinn, Willow. Das, was ich beim Abendessen neulich gesagt habe, entspricht genau dem, was ich empfinde. Es war ein schrecklicher Unfall, ein unfassbar schrecklicher Unfall, und mein erster Gedanke dabei ist immer, immer , wie hart es für dich ist. Wie hart die nächsten zehn Jahre für dich werden, zehn Jahre, in denen ich Eltern hatte, die mir bei allem zur Seite standen. Aber vielleicht hast du recht. Ich bin schon auch wütend auf dich. Ich bin wütend auf dich, weil sich fast mein kompletter Alltag unwiderruflich verändert hat. Und ich bin wütend, dass sich zwischen uns alles verändert hat. Ich liebe dich über alles, Willow, und das werde ich immer tun, aber ich vermisse die Leichtigkeit, die wir miteinander hatten.« Er legt seine Hand auf ihre, die immer noch auf seinem Arm ruht. »Ich bin schon immer für dich verantwortlich gewesen, allein schon deshalb, weil ich dich liebe. Und du bist genauso für mich verantwortlich, wie für jeden anderen Menschen, den du jemals in deinem Leben lieben wirst. Aber jetzt ist es anders. Ich bin nicht mehr nur dein großer Bruder, ich trage jetzt die Hauptverantwortung für dich, muss Dinge für dich regeln, die sonst immer Mom und Dad geregelt haben, mich um ganz alltägliche Dinge kümmern, wie eine verhauene Französischarbeit oder den Besuch eines El ternsprechtags. Und manchmal wird mir das einfach alles zu viel, dann würde ich dich am liebsten anschreien und dir sagen, dass ich das nicht kann, dass ich selbst noch nicht reif genug bin. Und dann hasse ich mich dafür, so etwas zu denken, weil ich weiß, wie feige und absurd und unfair es ist. Du dagegen bist so stark, dass es mich umhaut, und dann hasse ich mich noch mehr, weil ich nicht mal mit diesen kleinen alltäglichen Problemen klarkomme.«
»Aber ich bin nicht stark! Ich bin überhaupt nicht stark«, ruft Willow und vergräbt wieder das Gesicht in den Händen. Sie ist so überwältigt von dem, was ihr Bruder ihr gesagt hat, so erleichtert darüber, dass er endlich ehrlich mit ihr redet und dass er sie immer noch liebt – unfassbar! –, obwohl er wütend ist und frustriert und verwirrt und mit seinem Schicksal hadert, dass sie es einfach nicht erträgt, ihm irgendetwas vorzumachen.
Sie sollte ihm ihre Narben zeigen, die Schnitte, die sie sich mit der Rasierklinge zugefügt hat, und ihm sagen, dass er ein völlig falsches Bild von ihr hat. Es tut nur so unglaublich gut, dass er sie für so stark hält, und sie hat Angst, dieses Bild zu zerstören. Außerdem möchte sie ihm nicht noch mehr Verantwortung aufbürden, als sowieso schon auf ihm lastet. Sie weiß jetzt, dass sie mit dem, was sie zu Guy gesagt hat, recht hatte. Es würde ihn umbringen, wenn er die Wahrheit erfahren würde.
Und sie hat sich auch noch nicht entschieden, endgültig mit dem Ritzen aufzuhören. Ihr ist jetzt klar, dass sie noch nicht wirklich dazu bereit ist. Trotzdem nimmt sie die Hände vom Gesicht, streckt in einer Art flehenden Geste die Arme aus und hofft beinahe, dass er aus irgendeinem Impuls heraus selbst ihre Ärmel hochkrempelt und die Wahrheit herausfindet. Und wieder denkt sie, genau wie am Tag zuvor während ihres Gesprächs mit Markie, dass es so einfach wäre. Er müsste einfach nur ihre Ärmel zurückschieben, und alles wäre vorbei, erledigt, beendet! Sie würde von allen scharfen und spitzen Gegenständen ferngehalten, therapiert und beschützt werden.
Aber sie wird es ihm nicht von sich aus sagen. Denn obwohl er sie liebt, obwohl sie jetzt miteinander reden können, gibt es immer noch etwas, das sie trennt. Es ist das Bild, das er von ihr hat.
» Ich bin nicht stark. « Sie beginnt wieder zu weinen. » Ich bin nicht stark. «
»Willow.« David umfasst ihre Handgelenke und hält sie fest. Er rollt nicht die Ärmel ihrer Bluse hinauf. Warum sollte er auch? »Mein Gott, du zitterst ja am ganzen Körper! War es falsch, dass ich dir das alles gesagt habe? Hätte ich …«
»Nein! Nein! Es war gut, und du darfst nie wieder aufhören, mit mir zu reden, weil … du darfst einfach nicht damit aufhören …« Sie kann nicht mehr reden. Sie ist zu müde, zu verweint, und ihr Bruder drückt sie viel zu fest an sich, als dass sie noch irgendein verständliches Wort herausbringen könnte, und sie hat auch schon wieder Schluckauf.
»Schschsch.« David tröstet sie auf die gleiche Weise wie Isabelle, wenn sie weint. »Schsch, wir kriegen das schon alles hin, okay? Du versuchst
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