Bis unter die Haut
Er betrachtet die Ausgabe von Traurige Tropen . »Nein, du hast ja zwei Bücher geholt. Weil du ihm das eine schenken willst. Was wiederum ziemlich nett von dir ist. Ich hab eine vage Vorstellung davon, was dir dieser Jemand bedeuten muss.« Er sieht sie eine Weile schweigend an. »Willow, komm schon, du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass du nur deswegen rausgefahren bist.«
Willow starrt ihren Bruder verblüfft an. Wie kann er wissen, was nicht einmal sie selbst gewusst hatte? Dass ihre kleine Odyssee einen tieferen Sinn und Zweck hatte, dass der Bulfinch , den sie unbedingt von zu Hause holen wollte, nur eine … Und dann wird ihr klar, dass David etwas ganz anderes meint, dass er denkt, sie wäre mit Guy – denn er weiß, dass es Guy war – zum Haus gefahren, weil sie allein sein wollten, damit sie ungestört …
»Willow«, sagt David plötzlich. »Du wirst ja rot. Knallrot . Los, schau in den Spiegel, wenn du mir nicht glaubst.«
Aber Willow braucht nicht in den Spiegel zu schauen, um zu wissen, dass sie feuerrot geworden ist.
»Oh mein Gott. Oh mein Gott! « Er fängt an zu lachen. »Tu mir das nicht an, Schwesterlein, nicht das ! Für so was bin ich echt nicht gemacht.«
Vielleicht liegt es an der Übermüdung oder einfach daran, dass er vor ein paar Stunden noch so geweint hat, ganz egal, was es ist – David scheint endlich aufzutauen. Er sieht sie an, sieht sie an, wie er es schon seit dem Unfall nicht mehr getan hat. Redet mit ihr und zieht sie sogar genau so auf, wie er es früher so gern gemacht hat …
Okay, sie wollte, dass ihr Bruder endlich wieder wie früher mit ihr umgeht, aber …
Aber musste ausgerechnet das der Auslöser sein?
»Du würdest niemals so rot werden, wenn es wirklich nur um das Buch gegangen wäre.«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Ach komm schon … Es war doch klar, dass das irgendwann passieren würde. Und ich finde, dass du dir den Richtigen dafür ausgesucht hast, weil …«
»Kann ich endlich meine Sachen wiederhaben?«, schnaubt Willow und reißt ihm die beiden Bücher und ihre Tasche aus den Händen.
»Natürlich. Aber … Aber gibt es vielleicht noch irgendetwas, worüber du mit mir reden möchtest?«
»Nein.«
»Okay, gibt es dann vielleicht noch etwas, worüber ich mit dir reden sollte, zum Beispiel, wie man …«
» NEIN !«, fällt Willow ihm ins Wort.
»Na schön, in Ordnung. Aber vielleicht würdest du ja gern mit Cathy über gewisse Dinge re…«
» NEIN! « Willow kann nicht glauben, dass sie tatsächlich so eine Unterhaltung mit ihrem Bruder führt, oder besser gesagt, hartnäckig versucht, sie nicht zu führen.
»Was ist so witzig?« Jetzt fühlt sie sich richtig streitlustig.
»Ich hab nur gerade daran gedacht, dass ich Isabelle nicht mehr aus dem Haus lassen werde, wenn sie siebzehn ist.«
»Hörst du jetzt endlich auf damit!« Sie gibt ihm einen Klaps auf den Arm.
»Okay.« Er wird wieder ernst. »Hör zu, Willow, ich möchte nur, dass du weißt, dass es dir nicht peinlich sein muss. Wenn du mit mir darüber reden willst, wenn du willst, dass ich dir irgendwas erkläre …
»Ich will, dass du mit mir redest! Ich will, dass du mit mir redest! Ich will, dass du mit mir redest!« Willow erschrickt genauso wie David über ihren plötzlichen Ausbruch. Im Gegensatz zu gestern mit Guy merkt sie dieses Mal sofort, dass sie weint. »Ich will, dass du mit mir redest!«, wiederholt sie noch einmal und vergräbt den Kopf in den Händen.
»Willow!« David steht vom Stuhl auf, geht vor ihr in die Hocke und hebt ihr Kinn an. »Was ist denn los? Was ist passiert? Hast du … hat er …«
»Ich will, dass du mit mir redest. Aber nicht über solche Sachen … Darüber weiß ich schon seit der fünften Klasse Bescheid … Ich will … Ich will, dass du …«, stammelt sie und bekommt vor lauter Schluchzen kaum ein Wort heraus.
»Ganz ruhig. Atme tief durch. So ist es gut.« Er setzt sich neben sie und legt den Arm um sie. Seine Stimme klingt ruhig, aber sie spürt, dass er sich Sorgen macht und keine Ahnung hat, was ihren heftigen Gefühlsausbruch ausgelöst hat.
»Geht es wieder ein bisschen?«, fragt David nach einer Weile. »Möchtest du vielleicht versuchen, mir zu erklären, was gerade passiert ist?«
»Du … Du … Wir müssen über das reden, was passiert ist«, stößt Willow schließlich hervor. »Wir müssen über früher reden. Wir müssen über sie reden. Sie sind vielleicht tot, aber wir müssen sie in unseren
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