Bis unter die Haut
werden, oder?« David sieht sie mit hochgezogenen Brauen an. »Willst du vielleicht, dass jeder merkt, dass dein Bruder deinen Essay praktisch für dich geschrieben hat?«
»Aber der Vorschlag kam doch jetzt von mir und nicht von dir!«, widerspricht Willow empört.
»So.« Er schiebt den Stuhl vom Schreibtisch zurück und streckt sich kurz. »Fertig. Ich hab mir seit meinem Studium keine ganze Nacht mehr um die Ohren geschlagen, um eine Arbeit rechtzeitig abzuliefern, und ehrlich gesagt, hätte ich gut darauf verzichten können. Ich meine es ernst, Willow. Du weißt seit drei Wochen, dass du den Essay heute abgeben musst, warum hast du mich nicht einfach ein bisschen früher gefragt, ob ich dir helfen kann?«
»Okay, ja. Du hast ja recht.« Willow gähnt. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass sie ihn überhaupt gefragt hat.
Nachdem sie zu ihm in die Küche gegangen war und er diesen Satz gesagt hatte, der sie so sehr bewegt hat, haben sie lange zusammen am Küchentisch gesessen und geredet. Allerdings nicht über die wirklich wichtigen Dinge, wie sie gehofft hatte.
Aber immerhin hat er endlich seine kühle und reservierte Art ihr gegenüber abgelegt. Zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung hatten sie nicht darüber gesprochen, wie sehr sie ihre Eltern vermissten oder wie seltsam die Umstände sind, unter denen sie jetzt zusammen leben, dafür aber endlich über den Französischtest und die Schwierigkeiten mit ihrem Essay. Er hatte ihr vorgeschlagen, ihr zu helfen und ihn am Ende dann eigentlich komplett für sie geschrieben. Das wäre vor ein paar Wochen definitiv noch nicht möglich gewesen, und obwohl es immer noch besser ist, so mit ihm reden zu können als gar nicht, weiß sie, dass es ihr auf Dauer nicht reichen wird.
»Vielen, vielen Dank, David.« Sie streckt ihre Beine aus, die vom langen Sitzen eingeschlafen sind. Es ist fast halb sieben und sie sitzen jetzt schon seit über drei Stunden in ihrem Zimmer. »Das hätte ich alleine nie geschafft.«
»Schon gut«, antwortet David, aber Willow merkt, dass er ihr gar nicht richtig zugehört hat. Er starrt auf die Bulfinch -Ausgabe ihres Vaters, die auf dem Schreibtisch liegt und die sie – unfassbar, aber wahr – völlig vergessen hat. »Warst du …« Stirnrunzelnd nimmt er das Buch und blättert darin. »Den hast du … Den hast du von zu Hause, oder?«
»Mhm.« Willow nickt. Sie sieht ihm an, wie schwer es ihm fällt, die Worte überhaupt auszusprechen. »Ich … ähm … ich hab es mitgenommen, als ich, als du und Cathy noch mal mit mir hingefahren seid, damit ich mir ein paar von meinen Sachen holen kann. Ich wusste ja, dass ich ihn brauchen würde …«
»Ach ja?« Er schaut auf den Rucksack, der auf dem Boden liegt.
»Mhm.« Willow nickt wieder.
»Wirklich?« Er sieht sie verwirrt an. »Aber ich hab dich doch ständig bloß mit dieser billigen Taschenbuchausgabe gesehen. Und du hattest damals auch keine große Tasche dabei, sondern nur deinen Rucksack …« Er schweigt einen Moment lang nachdenklich und greift dann plötzlich nach ihrem Rucksack.
»Nicht!«, protestiert Willow. Aber es ist zu spät. Wenigstens ist ihr Rasierklingenvorrat mittlerweile in der Reißverschlusstasche, und die wird er ja wohl kaum aufmachen. Und vielleicht will er ja nur schauen, wie viel Platz tatsächlich in ihrer Tasche ist.
Aber da zieht David auch schon die Ausgabe von Traurige Tropen heraus.
»Ich … Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, stammelt sie. »Aber ich würde es gerne … Ich möchte es Guy schenken.«
Blöde Idee, ihm das zu sagen! Ganz blöde Idee!
Ja, sie hat die ganze Nacht an nichts anderes als an Guy denken können, und ja, sie hat versucht, David den Besuch mit Guy in ihrem alten Zuhause zu verheimlichen …
Aber ihm das zu sagen, war trotzdem eine verdammt blöde Idee!
»Ach komm. Du hast doch auf keinen Fall beide Bücher an dem Tag mitgenommen«, sagt er langsam. »Du bist noch einmal dort gewesen.«
»Nein, ich …«
»Willow.« David sieht sie erschrocken an. »Bist du etwa selbst mit dem Auto hingefahren? Und lüg mich jetzt bitte nicht an!«
Willow weiß, dass es zwecklos ist, dass ihr die Wahrheit überdeutlich ins Gesicht geschrieben steht. Und sie begreift jetzt auch, dass seine Hauptsorge nicht ist, dass sie dort war, sondern, wie sie dort hingekommen ist.
»Nein, ich habe jemanden gebeten, mich zu fahren und zu begleiten.«
»Ziemlich nett von diesem Jemand, dich den ganzen Weg zu fahren, nur um ein Buch zu holen.«
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