Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
jede Art von individuellem Zeugnis, hatte diese vor Leben explodierende Metropole natürlich auch eine Punkrock-Kompetenz. Wann immer eine Band nach Buenos Aires kommt, kann sie einen Grundstock von fünfhundert Neugierigen für ihre Musik blind einkalkulieren. Alles übrige ist eine Sache der Promotion, und darin war Michaels Vorarbeit einfach grandios. Wir entdeckten mehrseitige Artikel über uns in allen argentinischen Musikgazetten; in einigen steckten sogar Hosen-Poster. Wir waren überall angekündigt, die Stadt wußte Bescheid. Nur das Timing war anders als bei uns: Als wir nachts um eins ins »Halley« kamen, einem Rock’n’Roll-Club nahe der zentralen Avenida 9 dejulio, spielte die erste Band, Pilsen, vor ein paar Dutzend Leuten. Aber zu unserem Gig um vier war der Laden dann vakuumfrei mit Menschen abgedichtet.
Wir mußten mit eingezogenem Kopf durch einen langen, niedrigen Gang gehen, um von der Kabine im Keller zum Bühnenaufgang auf der gegenüberliegenden Seite zu gelangen. Die gewölbte Decke vibrierte von dreitausend Leuten, die dreißig Zentimeter über unseren Schultern trampelten und außer sich waren. Die Sache war keinen Dezibel schlechter als bei dem Heimspiel der Boca Juniors, das ich einige Tage später mit fünfzigtausend Fußballfanatikern erlebte. Vom ersten Akkord an drehten die Kids durch, als hätten die Juniors gerade die Copa America geholt. Als sie uns wieder rausließen, war es Frühstückszeit.
Zu steigern war sowas in Brasilien für uns nicht mehr, aber wir konnten das Level halten. Wir hatten sogar noch einen Trumph im Ärmel, den wir in Rio zückten. Im »Circo voador«, einer Art Roncalli-Szenerie in der Altstadt, holten wir unseren Freund Ronnie Biggs auf die Bühne. Vor fünfhundert Kids schleppte sich Ronnie gegen Ende unseres Sets an einem Stock und mit Sonnenbrille ausgerüstet als Stevie Wonder-Double auf die Bühne, um da oben dann förmlich zu explodieren. Zu »Police On My Back« von den Clash und »Carnival in Rio (Punk was)«, seinem Beitrag von der »Lear-ning-English«-Platte, zog unser vielgesuchter Freund sämtliche Show-Register. Das war viel angenehmer als die Atmosphäre in Saö Paulo, wo heftige Gangfehden zwischen Punks und Skins ausgetragen wurden. Und »heftig« heißt in Brasilien: nicht mit Fäusten und Flaschen, sondern mit Schußwaffen.
Als wir dort am ersten von zwei Abenden im »Woodstock« auf der Bühne standen, verschandelten etwa zwanzig Skins in den ersten Reihen die Aussicht auf die Gäste der Discothek. Keine linken Redskins, sondern die ganz ordinäre Fascho-Dröhnung. Ich machte eine Ansage, daß wir solche Arschlöcher nicht brauchen würden, und irgendwer alarmierte die Polizei. Erst als die Straße vor der Disco voller Mannschaftswagen war, zogen die Glatzen endlich ab. Bei der Gelegenheit stellte man auch etliche Schießeisen fest, aber eben nicht sicher - ihre Besitzer hatten tatsächlich Waffenscheine dabei. Das sollte Folgen haben: Noch in dergleichen Nacht erschoß ein Mitglied dieser Gang jemand in der Altstadt. Wen und warum, ist schwer zu ergründen in diesen Vierteln, wo sie Fremden für fünf Dollar das Messer an den Hals setzen.
Aber warum in die Ferne schweifen? Deutschland im Herbst '92 war alles andere als ein sicherer Ort - besonders wenn man die falschen Pässe und Pigmente besaß. Die Idylle des sozialen Scheinfriedens galt nicht für die Bewohner des Asylbewerberheims in Rostock-Lichtenhagen, das aufrechte Deutsche im August ab fackelten. Es galt nicht für die Familien Ars-lan und Yilmaz in Mölln, die bei einem Brandanschlag auf das von ihnen bewohnte Haus im November Angehörige verloren. Die fremdenfeindlichen »Übergriffe«, die in Wahrheit oft Lynchattacken waren, erreichten in diesen Monaten ihren pogromartigen Höhepunkt. Zweimal, auf der Bonner Hofgartenwiese sowie auf der Messe in Frankfurt, bildeten wir mit den Westernhagens dieser Welt erneut die große Koalition im Sinne des »Heute sie, morgen wir«. Der Publikums-Zuspruch war zwar riesig, aber das neue Asylgesetz und seine verschärften Bedingungen zum Asylrecht wurden durchgedrückt - nicht zuletzt mit der stillschweigenden Billigung zahlreicher Sozialdemokraten, die sich bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament ihrer Stimme enthielten.
Wir gebrauchten unsere Stimme. Im Dezember folgte unsere Single »Sascha«, das war mehr als bloß die Platte zum Pogrom. Es wurde ein dicker Klingelbeutel für den »Düsseldorfer Appell gegen
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