Bis zum bitteren Ende - Die Toten Hosen erzählen ihre Geschichte
wäre er keinem von der Band aufgefallen. Aber das ist das Gute am Rock’n’Roll: Man lernt die schrägsten Vögel kennen.
Lang lebe »Unplugged Helmut«, lang lebe Rock’n’Roll!
Der alte Mann und die Snare
Die müssen mir, Wölli, eigentlich einen Strauß Blumen in die Hände drücken heute, finde ich. Oder einen Zinnaschenbecher, ’n bißchen wertvolles Feuerzeug oder ’ne blöde Armbanduhr - was es in einer anständigen Firma eben so gibt bei einem Jubiläum. Und der Chef, das wäre Jochen, hätte eine kleine Rede zu halten über meine Treue und Unentbehrlichkeit, blabla, und dann, tsching-ping, hörte man die Sektflöten klirren. Weiter so, du blöde Sau!
Aber hier - fast nichts. Fünfterjanuar '96 in Düsseldorf, Lie-renfelder Straße. Auf der untersten Etage in unserem »Turm« werden vielleicht bald Eisblumen an den Fenstern erscheinen; ansatzweise klirrend ist nur die Kälte. Der einzige, der mir bisher die Hand geschüttelt hat, war dieser junge Dachs von der Zeitung, der uns interviewt hat. Wenigstens habe ich noch eine Pulle Sekt gefunden und zwei gespülte Tassen, damit konnten wir kurz anstoßen, alle fünf. Und ehrlich gesagt: mehr wäre mir auch doof vorgekommen.
Der alte Mann und die Snare
Fünfter Januar 1996 - der erste Tag seit Ewigkeiten, wo wir nicht mehr im Studio hocken. Alles, alles eingespielt und abgemischt, bis auf die letzte B-Seite für die nächste Single-Auskopplung (gutes Stück - hätte es vielleicht doch auf das Album gepaßt?). Keine Spätschichten mit Jon mehr, keine Hektik, keine Hörproben. Es ist der erste Tag in Freiheit, und etwas ist heute genau zehn Jahre her.
Der fünfte Januar ’86 war der erste Tag in meinem neuen Leben als Hose! Ich kam mit meinem Koffer aus Berlin angerauscht, um ausprobiert zu werden. Stieg bei Campi ab und wurde gleich am ersten Abend in eine Sauferei verwickelt; gemeinsam kotzten wir beide früh morgens auf dem Klo. Da hatte ich den Test schon bestanden, ohne auch nur einen Break vorgelegt zu haben. Ich wußte nur noch nichts davon.
Fünfterjanuar -genau zehnJahre als Schlagzeuger in dieser Band, zehnJahre Hauptwohnsitz Düsseldorf. Ich wollte hier nicht bleiben, als die mich holten. »Nicht für diese Stadt weg aus Berlin!«, dachte ich. Ich war es gewohnt, rund um die Uhr aufTrebe zu gehen, wenn mir danach war - nicht bloß Freitag und Samstag, wie hier in diesem Dorf. Ich war auch ziemlich fertig mit der Musik, dachte eher daran, mal ins Ausland zu gehen. Aber da war dieser Rotzlöffel, der kleine Bruder einer früheren Freundin, der nun hoch aufgeschossen war und einen neuen Drummer brauchte für seine Band. Eine sehr gute Band.
Dieser Rotzlöffel. Er war höchstens elf gewesen, als seine ältere Schwester Beate mich bei den Freges einführte. Wir hatten seinem älteren Bruder John beim Umzug geholfen und saßen noch zusammen über einer Pulle Sekt. Und dann kam Campi dazu, dieser halbgare Pupser, und sabbelte und erzählte Kinderwitze und lachte selbst am lautesten darüber, den ganzen Abend lang. Absolut penetrant, der Junge, aber
»Ein Rotzlöffel, der Junge, aber was für ein Energiebündel«: 20 Jahre später.
was für ein Energiebündel, was für ein Entertainer! Es war auch nicht nervig, sondern wirklich witzig, wirklich gut. Es wunderte mich kein bißchen, als der dann Frontmann wurde, und es ist vielleicht nicht nur Zufall, daß er nun seit zehn Jahren fünf Meter vor mir steht. Nennt es »Koinzidenz«, nennt es »Kharma«, ich sage nur: Es gibt Wege, die sich immer wieder überkreuzen.
Für wen arbeitet der junge Dachs, der uns interviewen wollte? Ich kann mir die Titel dieser ganzen Trendblättchen nicht merken. Der erste Nachmittag in Freiheit ist sowieso für Alex reserviert. Also zügig auf die Autobahn nach Mönchengladbach, wo Alex mit seiner Mutter lebt.
War es richtig, den Jungen nach einem unserer bekanntesten Stücke zu benennen? Auch Anja war nichts Besseres eingefallen in dem Jahr, und als Musiker bist du mit einer Hälfte deines Herzens sowieso immer bei der Band. Man kriegt lauter kleine, krächzende Kinder, wenn man eine neue Platte einspielt, denn jeder Song ist ein Baby, das man gemeinsam zur Welt bringt. Und es dauert oft ebenso lange, bis so ein Song fertig ist. Und länger: Seit den ersten Sessions zur neuen Platte sind inzwischen elf Monate vergangen.
»Das Jugendherbergs-Album« - so hätten wir es statt »Opium fürs Volk« nennen können. Wir hatten im Februar begonnen, uns im Proberaum
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