Bisduvergisst
seine Lungen zu pumpen. Behutsam tastete er sich durch ein Abteil nach dem anderen. Er wusste, was er über kurz oder lang aufspüren würde.
Nur nicht Kea. Irgendjemanden. Nur nicht sie. Bitte nicht sie.
Noch war nicht klar, ob hier unten auch für ihn oder Leitner eine Gefahr lauerte.
Als er den Raum mit dem zerschossenen Fenster erreichte, wusste er, dass er am Ziel seiner Suche war. Zwei Männer lagen am Boden. Für einen kam sichtbar jede Hilfe zu spät. Und Cary Grant lag in seinem eigenen Blut.
»Leitner!«, brüllte Nero.
Der Kollege stand schon neben ihm.
»Verdammt. Der Kreuzkamp! Und der Alfi!«
Nero berührte Kreuzkamps Schulter. Sein T-Shirt war durchdrängt von Blut. Nero zog sein Hemd aus und formte es zu einem Klumpen, während Leitner fluchend aus dem Keller lief, um einen Notarzt zu rufen.
»Hören Sie mich?«, drängte Nero. Er riss dem Verletzten das T-Shirt vom Leib. Die Kugel war knapp unterhalb des rechten Schlüsselbeins eingedrungen. Blut pulste in Stößen heraus. »Hören Sie mich?«
Von Kreuzkamp kam nur ein Wimmern.
»Wo ist Kea?« Nero drückte mit aller Kraft sein Hemd auf die Wunde und zerrte seinen Gürtel aus der Jeans. »Wo ist Kea!«
»Abgehauen«, flüsterte Kreuzkamp.
»Wer hat Sie angeschossen?«
Der Mann konnte es noch schaffen. Wenn er nicht zu viel Blut verloren hatte.
»Hall…«, kam es von Kreuzkamp.
»Hallhuber?« Nero zurrte den improvisierten Druckverband fest. Er hörte Leitner zurückkommen und fragte sich, wo eigentlich Yoo Lim steckte. »War es einer? Nur einer? Oder mehrere?«
»Einer.«
»Sie schaffen das!«, sagte er zu Kreuzkamp und richtete ihn ein Stück auf, damit er sich gegen die Wand lehnen konnte.
Kreuzkamp zitterte unkontrolliert.
Aus dem Wald ertönte ein neuer Schuss. Von weit her.
63
Ich ließ meine Tasche fallen. Handy, Geld, das ganze Ghost-Equipment – egal, ich konnte nicht mehr. Ich hatte meinen Atem längst abgehängt, fühlte die Gleichgültigkeit über mich hereinbrechen. Wenn es dir egal ist, ob du lebst oder stirbst, dann bist du wirklich in Gefahr. Wenn der Wille zu überleben erlischt, bist du leichte Beute.
Ich dachte an Nero. Wie es sich anfühlte, mit den Fingerspitzen über den Drei-Millimeter-Bart zu streicheln. An seine Stimme, wenn sie zaghafte Ermahnungen vorbrachte. An die Morgen, an denen wir aufgewacht waren, draußen in meinem Refugium, und über Nacht die Alpen vor das Fenster gekrochen waren.
Der Abstand zu meinem Verfolger schien sich vergrößert zu haben. Ich hörte keine knackenden Zweige mehr. Schleppte mich noch ein paar Schritte und hielt dann inne. Keuchend drehte ich mich um, nach Luft schnappend, gekrümmt vom Seitenstechen. Ausatmen, ausatmen. Lange genug ausatmen.
Ich konnte niemanden sehen. Hockte mich auf die Fersen, kühlte meine heißen Hände am Laub, legte den Kopf in den Nacken. Alle Sinne anspannen.
Der Schuss traf einen Stamm neben mir. Rinde splitterte weg, ich spürte etwas mein Gesicht streifen. Fühlte, wie mein linkes Auge sich sofort zupresste, der altbekannte Reflex, die rettende Reaktion des Körpers. Ich richtete mich auf, obwohl ich ahnte, dass ich einen Fehler macht. Wollte rennen. Blieb an einer Wurzel hängen und stürzte. Krachte mit der linken Schulter unsanft an einen Stein.
Das war es dann.
Hinter mir tauchte der gedrungene Kerl auf und richtete seine Waffe auf mich.
»Nicht!«, flüsterte ich überflüssigerweise. Mein Auge brannte. Ich versuchte zu blinzeln, aber das Lid blieb fest verschlossen.
»Das, was Sie gesehen haben, geht Sie nichts an«, keuchte er. In seinen Lungen rasselte es, er schnappte nach Luft.
»Was habe ich denn gesehen?«, fragte ich dämlich. »Einen Toten in einem Keller. Warum sind Sie nicht abgehauen? Einfach auf und davon?« Ich konnte es nicht lassen, die Leute zu belehren. Selbst in der letzten Minute.
»Mir blieb eigentlich nichts anderes übrig. Ich musste den Alfi kaltmachen.«
»Ich kann nicht folgen.« Ich versuchte, mich in eine etwas bequemere Position zu rücken. Wenigstens mich aufzusetzen, den Stein unter meiner Schulter loszuwerden. Der Schwenk seiner Pistole hielt mich davon ab.
»Der Alfi, der hat mir alles streitig gemacht. Immer hat er die guten Noten gehabt, und ich hing am unteren Ende. Bin durch jedes Schuljahr gerade so durchgerutscht. O. k., er hat mich abschreiben lassen. Sozial war er schon eingestellt. Er hat mir meistens geholfen. Aber ich wollte auch mal zu etwas kommen. Ohne dass der Alfi sich
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