Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
während sie sprach.
Ich nahm mir nicht die Zeit zu schauen, wie Alice im Schatten verschwand. Ich machte auch die Tür nicht hinter mir zu. Ich schubste eine dicke Frau zur Seite und rannte mit gesenktem Kopf drauflos, und das Einzige, worauf ich achtete, war das holprige Pflaster unter meinen Füßen.
Am Ende der schattigen Straße wurde ich von dem gleißenden Sonnenlicht geblendet, das auf die große Piazza knallte. Der Wind wehte mir ins Gesicht, peitschte mir die Haare in die Augen und nahm mir die Sicht. Es war kein Wunder, dass ich die Menschenmenge erst wahrnahm, als ich direkt in sie hineinlief.
Zwischen den eng zusammengedrängten Körpern gab es keinen Durchgang, keinen Spalt. Wütend schubste ich die Leute und wehrte mich gegen die Hände, die zurückschubsten. Während ich mich durchboxte, wurde ich in allen möglichen Sprachen beschimpft und war froh, dass ich nichts davon verstand. Ich sah verschwommene Gesichter, verärgert und überrascht, und drum herum das allgegenwärtige Rot. Eine blonde Frau keifte mich an, und der rote Schal, den sie um den Hals geschlungen hatte, erschien mir wie eine grausige Wunde. Ein kleiner Junge, den ein Mann auf den Schultern trug, damit er über die Menge hinwegsehen konnte, grinste auf mich herab, mit Vampirzähnen aus Plastik im Mund.
Ich war mitten im Gedränge und wurde in die falsche Richtung geschoben. Nur gut, dass die Uhr weithin zu sehen war, sonst hätte ich die Orientierung verloren. Doch beide Zeiger der Uhr wiesen empor zu der gnadenlosen Sonne, und obwohl ich rücksichtslos drängelte, wusste ich, dass ich zu spät kam. Ich war noch nicht mal halb über die Piazza. Ich konnte es nicht schaffen. Ich war ein dummer, langsamer Mensch, und deshalb mussten wir alle sterben.
Hoffentlich konnte wenigstens Alice entkommen. Hoffentlich sah sie mich, sah, dass ich versagt hatte, damit sie nach Hause zu Jasper zurückkehren konnte.
Über die wütenden Rufe hinweg versuchte ich einen Laut der Überraschung oder des Erschreckens, vielleicht sogar einen Aufschrei zu hören, der mir verraten würde, dass Edward entdeckt worden war.
Doch da war eine Lücke in der Menge – ich sah eine freie Fläche vor mir. Schnell schob ich mich hindurch, und erst als ich mir die Schienbeine an einer niedrigen Steinmauer stieß, merkte ich, dass sich in der Mitte der Piazza ein großer, quadratischer Brunnen befand.
Ich weinte fast vor Erleichterung, als ich ein Bein über den Rand schwang und durch das knietiefe Wasser lief. Es spritzte wie wild, als ich durch den Brunnen watete. Selbst in der Sonne war der Wind eisig, und das Wasser machte die Kälte geradezu schmerzhaft. Aber der Brunnen war sehr groß, binnen weniger Sekunden hatte ich die Mitte der Piazza und noch etwas mehr überquert. Als ich am anderen Ende des Brunnens angelangt war, benutzte ich die niedrige Mauer als Sprungbrett und stürzte mich in die Menge.
Jetzt machten die Leute mir bereitwillig Platz, um dem eiskalten Wasser auszuweichen, das von meinen triefnassen Kleidern spritzte, während ich rannte. Wieder schaute ich hoch zur Uhr.
Ein tiefer, wummernder Schlag dröhnte über die Piazza. Er ließ die Steine unter meinen Füßen erbeben. Kinder weinten und hielten sich die Ohren zu. Und während ich rannte, fing ich an zu schreien.
»Edward!«, schrie ich, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. Die Menge war zu laut, und ich war atemlos von der Anstrengung. Aber ich konnte nicht aufhören zu schreien.
Wieder schlug die Uhr. Ich rannte an einem Kind in den Armen seiner Mutter vorbei – seine Haare waren fast weiß im grellen Sonnenlicht. Einige große Männer in roten Jacketts drohten mir, als ich durch ihre Gruppe stürmte. Wieder schlug die Uhr.
Hinter den Männern in Jacketts war eine Lücke in der Menge, ein bisschen Platz zwischen den Touristen, die unter dem Turm ziellos umherschlenderten. Ich versuchte die schmale dunkle Gasse rechts von dem Glockenturm auszumachen. Doch es standen immer noch zu viele Leute im Weg. Wieder schlug die Uhr.
Jetzt konnte ich kaum noch etwas erkennen. Der Wind peitschte mir ins Gesicht und brannte mir in den Augen. Ich war mir nicht sicher, ob das der Grund für meine Tränen war oder ob ich aus Verzweiflung weinte, als die Uhr wieder schlug.
Eine vierköpfige Familie stand dem Eingang der Gasse am nächsten. Die beiden Mädchen trugen karmesinrote Kleider, die dunklen Haare hatten sie mit passenden Bändern zurückgebunden. Der Vater war nicht groß. Knapp über
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