Biss der Wölfin: Roman
gelernt, sich so zu verhalten, als täte er es. Und so saß ich auf seinem Schoß und küsste ihn, und er fauchte die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs nicht an, als sie begann, sich zu räuspern und finster herüberzustarren, und alles war gut.
»Und was jetzt diesen Ausflug zum Waschraum angeht«, sagte Clay, als ich wieder auf meinen eigenen Sitz hinüberrutschte.
Ich sah zum Waschraum der ersten Klasse hin … vorbei an zwei Flugbegleiterinnen und sechs Reihen von Passagieren, die samt und sonders mit dem Gesicht zu ihm saßen.
»Weißt du, in Filmen sieht es immer so viel einfacher aus.«
Er lachte und ließ seinen Gurt einrasten. »Es war also eine gute Überraschung, wenn ich das recht verstehe?«
»Phantastisch.«
Er zwinkerte in aufrichtiger Überraschung, und ich verspürte einen kleinen Stich meines schlechten Gewissens. Clay und ich hatten unsere Probleme gehabt in unserer gemeinsamen Geschichte – gigantische Probleme, die uns zehn Jahre lang voneinander getrennt gehalten haben. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, ihn auf Armeslänge von mir fernzuhalten, dass ich es in mancher Hinsicht vermutlich sogar jetzt noch tat. Ich hatte keinerlei Probleme damit, am Telefon beiläufig zu sagen »du fehlst mir«, aber es war nie ein tief empfundenes »Hey, du fehlst mir wirklich«.
Er wusste, dass er mir wirklich gefehlt hatte. Es brachte ihn einfach nur aus der Fassung, dass ich es aussprach. Noch etwas, womit ich mich beschäftigen sollte.
Als das Flugzeug abhob, erzählte ich Clay alles, was er über die möglichen Wolfsattacken wissen musste. Ja, unsere Mitreisenden hätten uns hören können, aber kein Mensch hört eine solche Unterhaltung mit und denkt sich dabei »Oh, mein Gott, sie reden über Werwölfe!«.
Es hatte bisher zwei Tote gegeben. Beides Männer, die nachts allein in der Wildnis von Alaska unterwegs gewesen waren, was darauf hinwies, dass da einfach die natürliche Auslese ihre angestammte Rolle gespielt hatte – etwa wie bei Afrika-Touristen, die beschließen, ihr Zelt neben einem Wasserloch aufzubauen.
Das erste Opfer war ein New-Age-Jünger aus Vancouver gewesen, der zum Zweck einer schamanischen Geistreise in seinem Tipi gefastet hatte; das zweite ein ehemaliger Sträfling, der unterwegs war, um fremde Fallen auszunehmen. Konnte man es den Wölfen wirklich übelnehmen, wenn sie zu dem Schluss gekommen waren, dass diese beiden ein gutes spätwinterliches Festessen abgaben?
Die Behörden gingen von einem einzelnen menschenfressenden Wolf aus. In der Nähe beider Leichen hatte man die Fährte eines riesigen Hundeartigen gefunden. Werwölfe wandeln sich in sehr große Wölfe – sie behalten auch nach der Wandlung ihre Körpermasse. Und die meisten Werwölfe außerhalb des Rudels sind Einzelgänger.
Aber das musste noch nicht heißen, dass es ein Werwolf war. Es legte allerdings nahe, dass wir uns die Sache ansehen sollten, wenn wir aus anderen Gründen sowieso nach Alaska gingen.
Als ich mit meinen Erklärungen zum Ende kam, wurde das Abendessen serviert. In Anbetracht der Tageszeit ließen es die meisten Passagiere bei Getränken und Erdnüssen bewenden, aber kein Werwolf lässt Essen stehen, ganz gleich, wie spät es sein mag. Während wir aßen, redete Clay über sein Symposium. Dann lieferte ich ihm ein weiteres Update – diesmal über Reese Williams.
Auch diese Unterhaltung hätte jedem, der sie mithörte, vielleicht etwas seltsam vorkommen können. Aber solange wir das W-Wort nicht erwähnten, würde der Zuhörer angesichts der Verfolgungsjagden und Nahkämpfe davon ausgehen, dass wir über einen Film redeten. Die meisten Leute waren inzwischen ohnehin eingeschlafen, und nach dem Essen und einem Glas Wein tat ich sehr bald das Gleiche.
Während ich schlief, sah sich Clay auf meinem Laptop das Informationsmaterial für Alaska-Touristen an, das ich zuvor heruntergeladen hatte. Solange er von Fremden umgeben war, konnte er sich nicht hinreichend entspannen, um auch nur die Augen zu schließen.
Als ich aufwachte und zum Fenster hinaussah, entdeckte ich unter mir die Lichter der Stadt.
»Noch dunkel?«, fragte ich gähnend. »Wie spät …?« Ich sah auf die Uhr. »Es ist nach sechs. Wo ist die Sonne?«
»Es ist nach fünf Ortszeit, und das hier ist Alaska, Darling.«
»Mist. Stimmt ja. Puh. Und wann können wir also mit der Sonne rechnen?«
»Sonnenaufgang beginnt gegen halb neun, aber es dauert eine Weile, bevor sie über die Berge da kommt.
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