Bisswunden
Dinge enorm vereinfachen, weil sich im Speichel dna findet, die man mit der dna von Verdächtigen vergleichen kann. Doch vor vier Wochen, als das erste Opfer gefunden wurde, konnte ich keinen Speichel an den beiden Bisswunden des Opfers entdecken. Ich nahm an, dass der Killer eine organisierte Persönlichkeit war – jemand, der den Speichel aus den Bissmalen wusch, um belastende dna-Spuren zu beseitigen. Doch eine Woche später, als das zweite Opfer gefunden wurde, fiel meine Theorie in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich fand Speichelreste in zweien der vier Bisswunden, die der Täter am Leichnam hinterlassen hatte. Dies eröffnete die Möglichkeit, dass wir es mit einer anderen, desorganisierten Killerpersönlichkeit zu tun hatten. Mithilfe reflektiver Ultraviolettfotografie und Elektronenmikroskopie der Bisswunden kam ich dennoch zu dem Schluss, dass der gleiche Täter beide Opfer ermordet hatte. Die ballistische Analyse der geborgenen Kugeln erhärtete meine Schlussfolgerung. Sechs Tage darauf, als das dritte Opfer gefunden wurde, bestätigte sich meine Vermutung aufgrund der dna-Spuren in den Bisswunden am Leichnam: Es stand zweifelsfrei fest, dass ein und derselbe Killer die drei Männer ermordet hatte.
Die Bedeutung dieser Entdeckung lässt sich nicht hoch genug einschätzen. Das grundlegende Kriterium, um einen Serienmord als solchen zu klassifizieren, sind drei Opfer, die von ein und derselben Person getötet wurden – jedes Opfer an einem anderen Ort und mit einem gewissen zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Taten. Ich hatte nun bewiesen, was ich gleich beim Augenblick des ersten Toten gewusst hatte: Ein weiterer Serienmörder war in New Orleans auf der Jagd.
Meine offizielle Verantwortlichkeit endete mit dem Vergleich der Bisswunden, doch ich hatte nicht vor, hier Halt zu machen. Während die Polizei von New Orleans und das fbi eine gemeinsame Sonderkommission bildeten, machte ich mich daran, die anderen Aspekte des Falles zu analysieren. Bei sexuell motiviertem Serienmord bildet die Auswahl derKriterien, nach denen ein Mörder seine Opfer findet, den Schlüssel zu jedem Fall. Und wie bei allen Serienmorden waren die nomurs – so getauft vom fbi für N ew O rleans Mur der s – ihrem Grunde nach sexuell veranlasste Morde.
Es gibt immer irgendetwas, das die Opfer eines Serienmörders verbindet, selbst wenn es nichts weiter ist als ein bestimmter Ort, wobei dieser Ort den Mörder anzieht. Doch die nomurs-Opfer unterschieden sich stark im Alter, der Physis, ihrem Beruf und dem sozialen Status; darüber hinaus wohnten sie in unterschiedlichen Gegenden. Die einzigen Gemeinsamkeiten waren ihre weiße Hautfarbe, ihr männliches Geschlecht, ihr Alter über vierzig und die Tatsache, dass sie Familie hatten. Diese vier Fakten in Kombination schlossen jedes bekannte Zielprofil für Serienmörder aus. Mehr noch, keiner der Ermordeten hatte Angewohnheiten, die einen Serientäter zu einem untypischen Opfer gelockt haben konnten. Keines der Opfer war homosexuell, es gab keinerlei Hinweise auf perverse Neigungen. Keines der Opfer war jemals wegen eines Sexualdelikts verhaftet worden, wegen Kindesmissbrauchs angezeigt oder als Gast in Striptease-Clubs oder anderen anrüchigen Etablissements in Erscheinung getreten.
Aus diesem Grund hatte die nomurs-Sonderkommission bisher keinerlei Fortschritte bei ihrer Suche nach einem Verdächtigen gemacht.
Ich bremse den Audi ab, um eine Hausnummer zu lesen, und meine Haut juckt vor Angst und Vorahnung. Der Killer war nur wenige Stunden zuvor hier auf dieser Straße unterwegs. Vielleicht ist er jetzt noch hier und beobachtet das Voranschreiten der Untersuchungen, wie Serientäter es häufig tun. Vielleicht beobachtet er mich. Darin liegt der Nervenkitzel. Ein Raubtier ist keine Beute. Wenn man ein Raubtier jagt, bringt man sich in eine Lage, die dazu führt, dass man selbst gejagt wird. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn man einem Löwen in ein Dickicht folgt, begibt man sich zwangsläufig in Reichweite seiner Pranken. Doch mein Gegner ist kein Löwe. MeinGegner ist die tödlichste Kreatur der Welt: ein männlicher Weißer, getrieben von Lust und Wut, und doch – zumindest zeitweilig – von Logik beherrscht. Er schleicht ungestraft durch unsere Straßen, voller Selbstvertrauen und Kühnheit; er plant akribisch im Voraus und ist arrogant, wenn es um die Ausführung geht. Und ich weiß bisher nur eines über ihn: Er wird wieder und wieder und wieder töten, genau wie alle
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