Bitter Love
sie mir behutsam um den Hals. Sie roch seltsam vertraut – wie nach einem Parfüm und irgendwie auch nach Erinnerungen. Instinktiv griffen meine Finger danach.
Und genau in diesem Moment, im Alter von acht Jahren, begriff ich es. So sicher, wie ich wusste, dass ich die Traumfängerkette nie mehr im Leben ablegen würde, wusste ich auch, dass ich eines Tages nach Colorado fahren würde – dorthin, wo Mom hingewollt hatte.
Trotzdem hatte der Therapeut unrecht gehabt. Die Halskette brachte mich nicht dazu, meine Trauer zu bewältigen und mit ihr abzuschließen. Weil ich so wenig über meine Mutter wusste, fühlte ich mich, als würde einStück von mir fehlen. Ich musste es schaffen, dieses Loch zu füllen, sonst würde ich genau wie Dad eines Tages einfach kaputtgehen. An dem Ort in meinem Innern, wo meine Mutter hätte sein sollen, war eine große Leere, und wenn ich nichts gegen diese Leere unternahm, würde ich irgendwann genauso hohl und dumpf werden wie er. Ich hatte Angst, dass am Ende auch ich ihr Gehirn auf dem Asphalt vergessen würde, so wie er es vergessen hatte.
Am Tag darauf, als wir auf dem Holzhaufen hinter Bethanys Haus spielten, zeigte ich Zack und Bethany die Halskette und erzählte ihnen alles. Meine Mutter war nicht einfach nur weg und mein Vater war nicht einfach nur still. Ich erzählte ihnen von den Fotos und wie Mom verrückt geworden war, wie sie gestorben war auf dem Weg in die Berge und wie ich mir vorgenommen hatte, dorthin zu fahren, wo sie hingewollt hatte. Und das war der Anfang unserer Colorado-Pläne.
Ich musste ein Gefühl dafür bekommen, dass Mom irgendwo
hin
gegangen war, dass sie ein Ziel vor Augen gehabt hatte und nicht einfach nur von uns
weg
wollte. Von
mir
wegwollte. Meine Mom hatte mich geliebt. Ich wollte sicher sein, dass sie mich geliebt hatte.
Wenn Tante Jules oder die Mutter von Bethany oder irgendwer sonst mir einzureden versuchte, meine Mutter sei jetzt ein Engel und gebe vom Himmel aus auf mich acht, konnte ich mir das nie vorstellen.
Für mich war meine Mom in den Bergen und wartete dort auf mich.
Kapitel 2
»Also ehrlich, wenn man nicht so pervers ist und Englischlehrer werden will, ist Grammatik doch sowieso für den Arsch, oder?«, sagte Zack, lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Er ließ einen Zahnstocher – sein neuestes Markenzeichen – von einem Mundwinkel zum anderen wandern.
Ich hielt Zack einen Stift hin. »
Du
bist im Arsch, wenn du dich nicht ein bisschen anstrengst. Wer im Grammatikkurs durchfällt, kriegt nämlich keinen Abschluss.« Das Schuljahr hatte erst vor zwei Wochen angefangen, aber Zacks Lehrer machten sich jetzt schon Sorgen, er könnte vor lauter Herumblödeln sein Endzeugnis vermasseln.
Zack zuckte mit den Achseln. »Und was soll mir das sagen?«
Ich warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das erklärt sich doch von selbst.«
Er verdrehte die Augen. Der Zahnstocher, der nun in der Mitte seiner Lippen hing, bewegte sich auf und ab, anscheinend klopfte er immer wieder mit der Zunge dagegen.
Ich seufzte und legte den Stift weg. »Na gut. Mir ist es egal. Aber glaub nicht, du könntest dich bei mir ausheulen, wenn deine Mutter die Rostlaube wieder mal einkassiert. Und mitnehmen tu ich dich auch nicht.«
Zack zog eine Augenbraue hoch. »Das ist also die Ansage? Dabei mach ich
alles
für dich. Hab dich schon öfter aus der Scheiße geholt, als ich zählen kann. Und du lässt mich einfach hängen. Das ist bitter, Alex, echt bitter.«
Ich grinste. »Ich tu dir einen Gefallen damit. Irgendwann wirst du mir dankbar sein.«
»Du klingst wie meine Mutter, echt. Was kommt als Nächstes? Erklärst du mir, dass Strafe sein muss oder dass es dir viel mehr wehtut als mir?«
»Ehrlich, manchmal ist es schon eine Qual, dir zu helfen.« Ich räusperte mich und schrieb etwas in Zacks Notizheft, das zwischen uns auf dem Tisch lag. »Aber komm jetzt, wir müssen weitermachen. Guck dir mal diesen Satz an. Was ist hier das direkte Objekt?«
Zack löste die Arme, beugte sich vor und betrachtete den Satz, den ich aufgeschrieben hatte. »Mann, du gehst mir echt auf den Sack«, nuschelte er mit dem Zahnstocher zwischen den Lippen. »Gut, dass du mich wenigstens ranlässt. Das da?«
Ich knuffte ihn am Arm. »Fast, aber nicht ganz. Und ranlassen tu ich dich höchstens in deinen Träumen, du alter Widerling. Komm, versuch’s noch mal. Um das direkte Objekt zu bestimmen, musst du …«
»Alex?«, rief Mrs Moody von der
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