Bitter Love
überhaupt wichtig war.
Nur ein Mal hatte ich Dad wirklich über unsere Mutter sprechen hören. Damals war ich acht. Bei einem Straßenfest hatte er ein ganzes Sechserpack Bier getrunken und sich später zu Hause mit einer Schuhschachtelvoller alter Fotos an den Küchentisch gesetzt. An diesem Abend hatte er gesagt, Mom wäre »verrückter als Gänsemist« gewesen, was auch immer das bedeuten sollte.
Meine kleine Schwester Celia und ich hatten nervös gekichert, als er das sagte. Wir wussten nicht, ob das eine Art Witz sein sollte, und stellten uns unsere Mutter als einen weißen, schmierigen Klecks vor, der auf der Windschutzscheibe eines Autos oder auf einem Zaunpfosten klebte, einen Klecks mit Augen, die herumrollen vor lauter Irrsinn. Wir beide erinnerten uns nicht an unsere Mutter. Wir waren noch zu klein gewesen, als sie fortging.
Aber Shannin, unsere ältere Schwester, war da gewesen, als Mom verschwand, und sie lachte nicht.
Dad war aufgestanden, hatte die Schuhschachtel genommen und sie in den Müll geworfen, dabei hatte er unentwegt vor sich hin gebrabbelt und sich einen alten Trottel genannt. Doch als er verschwunden war, holte ich die Schuhschachtel wieder raus, trug sie hoch in mein Zimmer und versteckte sie unter meinem Bett. Keine Ahnung, warum ich das machte, aber diese Schachtel vor dem Wegwerfen zu bewahren war mir vorgekommen wie etwas, das ich unbedingt tun musste.
Später an diesem Abend, als wir allein waren, hatte uns Shannin die echte und wahre Geschichte erzählt. Wie sie eines Nachts von lautem Telefonklingeln wach geworden war. Wie sie aus ihrem Zimmer in den Flur getappt war, damit sie um die Ecke gucken konnte, und wie sie sich auf den Boden gesetzt und ihr Nachthemd über die Knie gezogen hatte. Wie das Telefon dannnoch mal geklingelt hatte und wie Dad mit aufgewühlter Stimme drangegangen war.
»Diesmal ist sie komplett durchgedreht, Jules«, hatte Dad gesagt. »Ich weiß nicht. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wo sie hin ist.«
Shannin erzählte uns, dass genau in dem Moment, in dem Dad aufgelegt hatte, die Haustür aufgeflogen und Mom hereingestürmt sei. Sie hatte gesagt, sie wolle nach Colorado – in die Berge. Dad hatte sie am Ellbogen gepackt und gemeint, sie sei doch betrunken. Er hatte sie angebettelt zu bleiben, er würde schon jemanden finden, der ihr helfen könnte. Doch Mom hatte nur erwidert, sie hätte schon jemanden, der ihr helfe, aber nicht in der Art, wie Dad sich das vorstelle.
Und später, als Mom weg war und Dad in der Küche saß und der Geruch nach Kaffee durchs Haus zog, hatte sich Shannin wieder ins Bett gelegt. Erst am nächsten Morgen hatte sie erfahren, dass, während sie schlief, die Polizei mit der Nachricht von Moms Tod gekommen war. Mom war mit dem Auto gegen einen Laternenmast geprallt und gestorben. Einfach so.
»Ihr Gehirn ist auf die Straße gespritzt«, hatte Shannin geflüstert. Celia und ich hockten im Schneidersitz auf ihrem Bett und hielten uns zitternd an den Händen. »Das hat Dad Tante Jules bei der Beerdigung erzählt. Moms Gehirn war überall auf dem Asphalt verteilt. Die Straße war gesperrt, bis jemand mit einem Wasserschlauch gekommen ist und alles weggemacht hat. Tante Jules hat Dad die Schulter getätschelt und gesagt, Dad hätte Mom doch so geliebt und es wäre nicht richtig, dass er sich so was anhören muss. Da hat Dad angefangen zu weinenund gesagt: ›Stimmt, aber jetzt krieg ich’s einfach nicht mehr aus dem Kopf.‹«
Nachdem Shannin uns das alles erzählt hatte, lief ich zurück in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Ich zog die Schachtel mit den Fotos von meinen Eltern heraus, kippte sie auf mein Bett und blätterte sie durch, mit Bedacht und so geheimnistuerisch, als wäre es verboten, sie anzuschauen.
Stundenlang starrte ich diese Bilder an. Ich betrachtete Mom, die so froh und schlank und strahlend aussah, und versuchte, sie mir betrunken und verrückt vorzustellen, wie ich es von Shannin gehört hatte. Für mich passte das nicht zusammen.
Es gab Dutzende von Fotos. Eins von Moms Schulabschluss. Zwei von einem Geburtstagsfest. Eins von ihrem Hochzeitstag.
Es gab Bilder, die ich mir besonders gerne ansah. Ein Foto von den beiden auf einer Party. Dad saß auf einem Klappstuhl und hatte Mom auf dem Schoß. Ihre Haare waren kurz geschnitten und sie trug eine Weste über einem Button-down-Hemd. Seine Hände lagen auf ihrem Bauch, mit verschränkten Fingern. Ihre Hände lagen auf seinen und sie strahlte vor
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