Bitterfotze
Großen und Ganzen ist unsere kleine Gruppe sehr gut gelaunt und von der mäßig gefährlichen Strapaze erfrischt. Ich denke an das heimliche Lächeln der Turkufrau und an all die menschlichen Schicksale, die sich in der kleinen Bar versammelt haben. Und da wird mir auch deutlich, dass wir alle irgendwie einen inneren Freiheitskampf ausfechten.
Vor bestimmten Geschehnissen und Umständen kann ich jedoch nicht die Augen verschließen. Will ich nicht die Augen verschließen. Aber vielleicht kann man Teilzeit-Bitterfotze sein? Halbtags?
Ich trinke meine süßklebrige Kognakschokolade und lächele alle an. Im Moment fühle ich mich tatsächlich nicht bitterfotzig. Ich denke an Johan und Sigge und die Liebe, die es da gibt. Die bedingungslose zu Sigge, die sich unendlich anfühlt und die mich mit ihrer Größe heilt. Die schmerzhaftere zu Johan, die auch schön und voller Genuss ist. Dass Johan sowohl meine Stärke als auch meine Jämmerlichkeit liebt. Dass ich am liebsten Johans Hand nehme, wenn es dunkel ist.
Ich denke an meine Freunde, die mich schon so oft gerettet haben. Eine Art zweiter Familie, ohne die ich es nicht geschafft hätte. Ich denke an meine Geschwister, wie stolz ich bin, dass sie so wunderbare Menschen geworden sind, obwohl wir es wirklich nicht leicht hatten, als wir klein waren. Wie viel langweiliger das Leben ohne sie wäre.
Ich denke an meine Eltern. Die Lebensfreude meiner Mutter, trotz allen Elends. Ein ungeschliffener Diamant. Vaters Schwärze. Seine Trauer und Schuld, mit denen ich irgendwie leben lernen muss. Mich versöhnen muss.
Ich bin glücklich, wehmütig, voller Liebe, reich und begabt.
In der Bar auf Teneriffa fällt mir plötzlich ein amerikanischer Dokumentarfilm ein, über einen Mann namens Stevie. Als Kind ist er von seiner Mutter schwer misshandelt worden und hat in mehreren Pflegefamilien gelebt, in denen er teilweise Liebe erfahren hat und teilweise neuerlichen Übergriffen ausgesetzt war. Nun war er sechsundzwanzig und entwicklungsgestört, vom Leben gezeichnet. Er trug eine dicke Brille, hatte fettige Haare und unreine Haut. Seine Mutter, seine Großmutter und die kleine Schwester wohnten in der gleichen Gemeinde, wo alle arm und arbeitslos zu sein schienen. Stevie hatte Kontakt zu seiner biologischen Familie, obwohl er ständig hinter dem Rücken seiner Mutter fluchte, über alles, was sie ihm angetan hatte.
Mitten im Film, zwischen all den Interviews über Stevies Kindheit, kam heraus, dass Stevie sich sexuell an seiner achtjährigen Cousine vergangen hatte, als er auf sie aufpassen sollte. Die Tante, Mutter der Achtjährigen, war verzweifelt, sprach aber dennoch die ganze Zeit darüber, dass man es ja verstehen müsse, weil Stevie eine so schwere Kindheit gehabt hatte. Stevies jüngere Schwester, die auch sein Vormund war, erklärte sachlich, dass es nicht gut aussah für Stevie, wenn man bedachte, welche Übergriffe er gegen sie begangen hatte, als sie klein waren. Übergriffe, die seit vielen Jahren in Stevies Vorstrafenregister standen. Das wurde irgendwie beiläufig erzählt, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, was sie da gesagt hatte. Stevie hatte sich an ihr vergriffen, als sie klein waren, und doch stand sie da und machte sich Sorgen wegen einer eventuellen Gefängnisstrafe, die ihm drohte. Sie stand Stevie am nächsten, sie kümmerte sich um ihn, nahm ihn mit in die Ferien. Sie war für ihn da, wenn er jemanden brauchte, und dabei hatte er sich an ihr vergriffen, als sie klein waren. Mir schwirrte der Kopf, und mir wurde heiß und kalt. Wie konnte das möglich sein? Dass Vergebung so großherzig sein konnte! Denn diese Menschen hatten wohl kaum therapeutische Hilfe bekommen, um das zu verarbeiten, was sie erlebt hatten. Die ganze Klugheit, die ganze Liebe und Versöhnung hatten sie allein erreicht.
Es gab ein Foto von Stevie als Achtjährigem, einem unglaublich süßen Jungen mit scheuen Augen, die lächelten und in die Kamera schauten. Wie eine Erinnerung an den, der er hätte sein können, wenn er mit Liebe und ohne Übergriffe hätte aufwachsen dürfen. Und es war, als ob Stevies Schwester dieses Bild von ihm in sich lebendig gehalten hätte. Mitten in all dem Elend, dem Schrecklichen vergaß sie nie den kleinen Jungen Stevie.
Und ich dachte jetzt an ihre Großtat. Versöhnung sollte auch für mich möglich sein, wo ich nicht einmal einem Bruchteil der Übergriffe ausgesetzt gewesen war, die sie erleiden musste.
Konnte ich lieben und mich
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