VT04 - Zwischen Leben und Sterben
Professor Decker eilte aus dem offenen Lift und kam ihnen entgegen – schon das war ungewöhnlich. In seinen versteinerten Zügen aber lag die Angst so offen zutage, dass auch ein weniger einfühlsamer Mensch, als Leila Dark es war, sie gelesen hätte.
Leila Dark erschrak bis ins Mark. »Was ist geschehen, Professor Decker?« Halb betäubt ergriff sie die dargebotene Hand des Mediziners. Sie fühlte sich kalt an. »Ist etwas mit Hanns-Joseph?«
»Kommen Sie, Mrs. Dark.« Er fasste ihren Arm und führte sie an der Rezeption vorbei zum Empfangsbüro. Die Blondine hinter dem Tresen wich Mrs. Darks Blick aus. »Es gibt Probleme mit ihrem Mann, ja.« Decker öffnete die mit rotem Leder gepolsterte Tür. »Im Büro können wir in Ruhe reden.«
Mit steifen Knien stelzte Leila Dark hinter dem Professor her zur Sitzgruppe vor der offenen Terrassentür des Raumes. Hinter ihrem Brustbein schien die Eiszeit auszubrechen, das Herz schlug ihr in der Kehle, das Atmen fiel ihr schwer. Hagen blickte zu ihr herauf, rollte die Augen und winselte ängstlich.
Leila Dark sank in den Sessel, den der Professor ihr ein Stück vom niedrigen Glastisch wegrückte. »Um Gottes willen, Professor! Was ist denn geschehen?« Ihr Rüde, eine anthrazitfarbene deutsche Dogge, ging neben ihrem Sessel auf die Hinterläufe.
»Ich fürchte, wir müssen ihn wecken.« Der Professor setzte sich ihr gegenüber und beugte sich über seine Knie. »Er hat mir schon gestern nicht gefallen, aber wir hofften die Unregelmäßigkeiten noch einmal in den Griff zu bekommen.«
»Unregelmäßigkeiten?« Ihre blauen Augen wurden noch größer, als sie es sowieso schon waren. »Wecken? Aber, Professor Decker, warum das denn…?«
»Ich habe schon versucht Sie anzurufen, Mrs. Dark. Gleich heute Morgen, als ich das Protokoll der Nacht und die aktuellen Laborwerte zu sehen bekam.« Sehr ernst blickte er in das schöne Gesicht der dunkelhaarigen Frau. »Doch Sie waren bereits weggefahren, und da Sie kein Mobiltelefon benutzen, konnte ich…«
»Was um alles in der Welt ist geschehen, Professor Decker?!« Verzweifelt rang Leila Dark die Hände. »Es lief doch alles so gut«!
»Die Temperatur steigt seit gestern und beträgt heute Morgen schon über fünfunddreißig Grad Celsius. Auch die Blutwerte sprechen für einen erhöhten Stoffwechsel. Dann der ganze klinische Eindruck…« Decker fuchtelte mit der Rechten, als suchte er nach möglichst unverfänglichen Worten. »Ihr Mann gefällt mir einfach nicht, Mrs. Dark. Ich denke wirklich, wir sollten…«
»Er gefällt Ihnen nicht? Klinischer Eindruck? Ja, was meinen Sie denn, Professor? Ich muss doch wissen, was los ist mit meinem Mann, bevor ich mein Einverständnis zum Abbruch gebe!«
»Nun, mit klinischem Eindruck meine ich das Aussehen Ihres Gatten, Mrs. Dark. Und ich denke, er verändert sieh. Er… er…« Wieder unterbrach sich der Mediziner und machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Möglicherweise altert er doch schneller als vorgesehen, ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es nicht länger verantworten, den Tiefschlafstatus aufrecht zu erhalten.«
Leila Dark sprang auf. »Ich will zu meinem Mann!« Sofort erhob sich auch Hagen. Er bellte tief und heiser. Seine Herrin legte ihm zärtlich die Hand auf den Schädel. »Ich will Hanns sehen!«
»Davon rate ich ab, Mrs. Dark.« Der leidende Blick des Mediziners flog zwischen der jungen Milliardärin und ihrer nervösen Dogge hin und her. »Um Ihretwillen rate ich davon ab.«
»Bringen Sie mich zu ihm, Professor Decker!«, beharrte die aufgewühlte Frau. Eine Zornesfalte hatte sich zwischen ihre Brauenbögen gegraben. »Jetzt!«
»Wie Sie wünschen, Mrs. Dark.« Decker stand auf, ging zur Tür und zum Aufzug. Leila Dark und Hagen folgten ihm. Schweigend warteten sie auf den Lift, schweigend stiegen sie ein, schweigend fuhren sie ins fünfte Untergeschoss hinab.
Das Lazarus-Hospiz war natürlich kein Sterbehospiz. Es war eine Filiale des Virgin Galactic Instituts. »Hospiz« wurde es nur aus Gründen der Diskretion genannt; oder der Vertuschung, um es weniger höflich auszudrücken. Das sündhaft teure Medikament nämlich, mit dem der US-Amerikaner Joel Decker und sein Ärzteteam hier, am Ufer der Themse, zahlungskräftige Menschen in den Tiefschlaf schickten, war noch keineswegs so gut erforscht, wie der Professor seinen Kunden gegenüber gern behauptete.
Dennoch war das Präparat Ichtylintrihydroäthylamid unter dem Medikamentennamen Hypnotimmortal für den
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