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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Jugend!« Heutzutage war so gut wie alles digitalisiert. Alle Papierbücher waren eingestampft und zu unverzichtbaren Dingen wie Toilettenpapier und Geld recycelt worden. Wenn die eigene Familie (oder Schule) zufällig im Besitz eines soliden Papierbuchs war, behielt man es auch. (Im Übrigen war Papier einer der anderen Rohstoffe, mit denen die Semja der Balanchines auf dem Schwarzmarkt handelte.)
    »Du kannst es dir gerne ausleihen«, sagte Imogen zu mir. »Es wird wirklich noch spannender.« Die Pflegerin meiner Großmutter war eine eifrige Papierbuchsammlerin, was mir lächerlich altmodisch vorkam. Warum sollte man sich all diese schmutzigen Papierkadaver in die Wohnung stellen? Dennoch: Bücher waren wertvoll für sie, deshalb war es ein Zeichen von Anerkennung, dass sie mir eins anbot.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich muss massenweise Texte für die Schule lesen.« Ich las lieber auf meinem Tablet und hatte eh nicht viel für Belletristik übrig.
    Imogen überprüfte ein letztes Mal Großmutters Apparate, bevor sie sich verabschiedete.
    »Ich nehme an, du hast Leonyd gefunden«, sagte Nana, als Imogen gegangen war.
    »Stimmt.« Sollte ich sie damit beunruhigen, wo und mit wem Leo unterwegs gewesen war?
    »Er war mit Piroschki und Fats im Pool«, sagte Nana. »Ich habe ihn heute Morgen gefragt.«
    »Und, was hältst du davon?«
    Nana zuckte mit den Schultern, was sie zum Husten brachte. »Vielleicht ist es ja in Ordnung. Es ist schön, dass die Familie sich jetzt für deinen Bruder interessiert. Leo ist zu viel mit uns Frauen zusammen. Er könnte ein paar männliche Kameraden gebrauchen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe da kein gutes Gefühl, Nana. Jakov Piroschki ist nicht besonders vertrauenswürdig.«
    »Trotzdem gehört er zur Familie, Anya. Und Verwandte kümmern sich umeinander. So ist das nun mal. So war das schon immer. Zumindest Fats kommt mir ganz anständig vor.« Nana hustete erneut, ich schenkte ihr Wasser von einem Krug auf dem Nachttisch ein. »Danke, Dewotschka .«
    »Leo hat irgendwas davon gesagt, er könnte im Pool arbeiten.«
    Nana riss kurz die Augen auf, dann nickte sie. »Das hat er mir nicht erzählt. Nun, es hat schon gemachte Männer gegeben, die sehr viel schlichter gestrickt waren als Leo.«
    »Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel … also … hm … Jetzt weiß ich’s!« Sie lächelte triumphierend. »Zum Beispiel Viktor Popow. Der war mein Jahrgang. Über zwei Meter groß, einhundertsechzig Kilo schwer. Wäre ein wahnsinnig guter Footballer geworden, wenn er sich die Regeln hätte merken können. Die anderen nannten ihn in seiner Anwesenheit ›das Maultier‹ und hinter seinem Rücken den ›Esel‹. Wenn jemand gebraucht wurde, der still und leise einen Lkw auslud, rief man das Maultier an. Egal wie computerisiert alles wird, manchmal braucht man jemanden, der richtig anpacken kann.«
    Ich nickte. Das leuchtete mir schon ein. Zum ersten Mal seit Leos Verschwinden entspannten sich meine Muskeln ein wenig. »Und was ist aus dem Maultier geworden?«
    »Das ist nicht so wichtig.«
    »Nana!«
    »Er bekam einen Schuss in den Kopf. Verblutete. Wirklich eine Schande.« Sie schüttelte den Kopf. 
    »Nicht gerade ein schönes Ende, Nana. Und Leo hat auch nicht unbedingt die Statur des Maultiers«, warf ich ein. Mein Bruder war zwar groß, aber ein Strich in der Landschaft.
    »Ich will darauf hinaus, Dewotschka , dass man alle möglichen Menschen braucht, um ein Unternehmen zu führen. Und dein Bruder ist jetzt ein großer Junge.«
    Ich knirschte mit den Zähnen.
    »Anyeschka, du hast zu viel Ähnlichkeit mit deinem Vater. Du willst die ganze Welt und alle Menschen unter Kontrolle halten, aber das geht nicht. Lass dieser Sache – die wahrscheinlich völlig harmlos ist – doch einfach ihren Lauf. Wenn wir uns einmischen müssen, tun wir das. Außerdem würde Leo niemals in der Klinik kündigen. Dazu liebt er die Tiere zu sehr.«
    »Das heißt, wir tun nichts?«
    »Manchmal ist es das Einzige, was man tun kann«, sagte Nana. »Obwohl …«
    »Ja?«
    »Hol dir einen Riegel Schokolade aus dem Schrank«, befahl sie.
    »Schokolade ist nicht die Lösung für alles, Nana.«
    »Aber für verdammt viele Dinge«, gab sie zurück.
    Ich ging zu ihrem begehbaren Kleiderschrank und schob die Mäntel beiseite, um den Safe zu öffnen. Ich nahm die Waffe weg und griff nach einem Schokoriegel: Balanchines Extra Dunkel. Dann legte ich die Pistole zurück und schloss den Safe.
    Irgendwas

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