Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
Vom Netzwerk:
stimmte nicht.
    Eine der Waffen fehlte. Die Smith & Wesson meines Vaters.
    »Nana?«, rief ich.
    Sie antwortete nicht. Ich trat zurück ins Zimmer. Meine Großmutter schlief bereits tief und fest.
    »Nana!«, wiederholte ich und schüttelte sie an der Schulter.
    »Was ist?«, schreckte sie auf. »Was denn?«
    »Eine der Waffen fehlt«, erklärte ich. »Aus dem Safe. Daddys Pistole.«
    »Hattest du heute Abend was damit vor? Nimm doch stattdessen den Colt.« Nana schmunzelte und rang kurz darauf nach Luft, so dass ich ihr Wasser zu trinken gab. »Imogen hat sie bestimmt verlegt. Ich meine, sie hätte irgendwas gesagt, dass sie sie putzen wollte oder dass es nicht sicher wäre, die Waffen alle an einem Ort aufzubewahren oder … tut mir leid. Ich weiß es nicht mehr.« Nana machte ein trauriges, verwirrtes Gesicht, und ich hätte am liebsten geweint. Dann lächelte sie. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Schätzchen. Du kannst sie ja morgen danach fragen.«
    Ich küsste meine Großmutter auf die Wange und ging. Auf dem Weg zu meinem Zimmer kam ich an Leos Tür vorbei. Sie war verschlossen, aber ich konnte einen Lichtstreifen darunter sehen. Er musste nach Hause gekommen sein, während ich mit Nana sprach. Ich schaute auf die Uhr: 16.10 Uhr, etwas früh für meinen Bruder.
    Ich klopfte an seine Tür.
    Keine Reaktion.
    Ich klopfte erneut.
    Immer noch keine Antwort. Ich legte mein Ohr an das Holz. Ganz schwach vernahm ich ein unterdrücktes Schluchzen.
    »Leo, ich weiß, dass du da bist. Was ist passiert?«
    »Geh weg!«, rief Leo, die Stimme erstickt vor Tränen.
    »Das geht nicht, Leo. Ich bin deine Schwester. Wenn etwas passiert ist, muss ich es wissen, damit ich dir helfen kann.«
    Ich hörte, wie Leo die Tür verschloss.
    »Bitte, Leo! Wenn du jetzt nicht sofort aufmachst, muss ich das Schloss knacken. Du weißt, dass ich das kann.« Ich hatte es schon viele Male getan, wenn Leo sich aus Versehen oder mit Absicht in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte.
    Leo drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür.
    Seine Augen waren blutunterlaufen, ein Rotzfaden hing an seiner Nase. Wenn mein Bruder weinte, sah er aus wie ein Sechsjähriger. Sein Gesicht wurde rot und so verkrampft wie eine Faust.
    Ich legte die Arme um ihn, was ihn nur noch heftiger zum Weinen brachte. »Ach, Leo, was ist denn los? Hat es etwas mit Jacks zu tun?«
    Leo schüttelte den Kopf. Nach ungefähr einer weiteren Minute gelang es ihm, mir den Grund für seine Traurigkeit zu offenbaren. Er konnte mir nicht ins Gesicht sehen, aber sagte schließlich, er hätte seine Stelle in der Tierklinik verloren.
    »Macht doch nichts, Leo.« Ich strich ihm über den Rücken, so wie er es mochte. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, bat ich ihn zu erklären, was genau geschehen war. Es stellte sich heraus, dass die Tierklinik geschlossen worden war. Als Leo aus der Mittagspause zurückkam, war jemand vom Gesundheitsamt der Stadt New York zu einer unangekündigten Inspektion aufgetaucht. Der Klinik waren einundfünfzig Vergehen zur Last gelegt worden, die meisten davon im Bereich Hygiene, woraufhin sie auf der Stelle ihren Betrieb hatte einstellen müssen.
    »Aber es war alles sauber«, klagte Leo. »Ich weiß, dass es sauber war. Es war meine Aufgabe, alles sauber zu halten, und darum habe ich mich gekümmert. Alle sagen, dass ich ordentlich arbeite, Annie.«
    »Es ist nicht deine Schuld«, versicherte ich meinem Bruder. Solche Dinge passierten jeden Tag. Offensichtlich hatte irgendein Mitarbeiter der Klinik nicht den richtigen Mitarbeiter im Gesundheitsamt geschmiert. »Ich sag dir mal was, Leo. Ich wette jedes Geld der Welt, dass die Klinik in ein paar Wochen wieder öffnet und du in null Komma nichts wieder dort arbeitest.«
    Leo nickte, aber sein Blick sagte mir, dass er nicht überzeugt war. »Sie schicken die Tiere weg, Annie. Sie tun ihnen doch nichts, oder?«
    »Nein.« Vor einigen Jahren hatte es eine Initiative gegeben, alle Haustiere aus der Stadt zu verbannen, aber es hatte Proteste dagegen gegeben, so dass es nicht so weit kam. Manche Menschen waren aber noch immer der Meinung, Haustiere seien eine Verschwendung unserer begrenzten Ressourcen. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht genau, was passieren würde, aber das wollte ich Leo nicht sagen. Ich nahm mir vor, Leos Chefin anzurufen, Dr. Pikarski, und sie zu fragen, ob ich irgendwie helfen könne.
    Leo sagte, er sei müde, deshalb steckte ich ihn ins Bett und sagte, ich würde ihn zum Abendessen wecken.

Weitere Kostenlose Bücher