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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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war so lieb, dass ich es ihm fast abgenommen hätte. Ich wollte ihm wirklich gerne glauben. »Eben hast du gesagt, deine Schwester hätte auch Anfälle gehabt. War damit irgendwann Schluss?«
    »Ja.« Er hielt inne. »Als sie starb.«
    »Das tut mir leid.«
    Er winkte ab. »Lange her. Du kannst mit Sicherheit auch einen ganzen Roman mit traurigen Geschichten füllen.«
    (Damals interessierte sich natürlich niemand besonders für Romane.) Ich stand auf und legte das Kissen zurück in den Sessel. »Gute Nacht, Win.«
    »Nacht, Anya.«

    Gegen fünf Uhr wurde ich von Schreien geweckt. Ich schlief nie sehr tief und fest, deshalb dauerte es nur kurz, bis ich wusste, dass die Schreie aus dem Flur kamen, von meiner Schwester.
    Als ich das Licht anmachte, saß Scarlet aufrecht in ihrem Schlafsack. Ihre Augen waren schlaftrunken und voller Angst.
    »Das ist nur Natty. Wahrscheinlich hat sie wieder einen Albtraum«, beruhigte ich Scarlet und stieg aus dem Bett.
    »Arme Natty. Soll ich mitkommen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich war es gewöhnt, Natty nach ihren schlimmen Träumen zu trösten. Sie litt darunter, seit Daddy vor fast sieben Jahren gestorben war.
    Win war im Flur. »Kann ich helfen?«
    »Nein«, sagte ich. »Geh wieder ins Bett.« Es störte mich, dass er überhaupt da war. Menschen, die über deine privaten Probleme Bescheid wussten, hatten Macht über dich.
    Ich ging in Nattys Zimmer und schlug Win die Tür vor der Nase zu.
    Ich setzte mich an ihr Bett. Sie war verschwitzt und hatte sich in den Laken verheddert. Sie schrie nicht mehr so laut, war aber immer noch nicht wach. »Psst«, machte ich. »Das war nur ein böser Traum.«
    Natty schlug die Augen auf und fing sofort an zu weinen. »Aber er wirkte so echt, Annie.«
    »Ging es um Daddy?« Normalerweise drehten sich ihre Albträume um die Nacht, als unser Vater ermordet wurde. Es war in dieser Wohnung geschehen, und wir waren beide zu Hause gewesen. Natty war damals erst fünf Jahre alt, ich neun. Leo war in einem Internat, wofür ich sehr dankbar war. Ein Mensch sollte nicht beide Morde an seinen Eltern als Augenzeuge miterleben.
    Die Mörder kamen, als Daddy arbeitete. Natty und ich waren nicht nur zu Hause, wir waren mit ihm in einem Zimmer. Niemand bemerkte uns, weil wir zu Daddys Füßen spielten, verdeckt von dem gewaltigen Mahagonischreibtisch, an dem er saß. Er hörte die Eindringlinge, noch bevor er sie sah. Schnell neigte er uns leicht den Kopf zu und legte den Finger auf die Lippen. »Rührt euch nicht!«, waren seine letzten Worte, bevor man ihm in den Kopf schoss. Obwohl ich noch ein Kind war, wusste ich, dass ich Natty den Mund zuhalten musste, damit niemand sie schluchzen hörte. Und obwohl niemand da war, der mir den Mund zuhielt, weinte ich auch nicht.
    Sie schossen Daddy einmal in den Kopf und dreimal in die Brust, dann rannten sie aus dem Haus. Von der Stelle unter dem Schreibtisch, wo ich hockte, konnte ich die Täter nicht erkennen; für die Polizei blieb das Verbrechen ungelöst. Nicht dass groß ermittelt worden wäre. Schließlich war unser Vater ein berüchtigter Gangsterboss gewesen – aus Sicht der Polizei war der Mord an ihm nur eine Frage der Zeit, Berufsrisiko und so weiter. In gewisser Weise dachte man vielleicht sogar, die Mörder hätten ihnen einen Gefallen getan.
    »Ging es um Daddy?«, wiederholte ich.
    Natty sah mich mit gehetztem Blick an. »Nein, es ging um dich.«
    Ich lachte. »Du kannst es mir ruhig sagen. Es wird dir bessergehen, wenn du es mir erzählst und ich dir dann sagen kann, wie albern das ist.«
    »Es war wie der Abend, als Daddy erschossen wurde«, sagte sie. »Ich hockte unter dem Tisch und hörte die Mörder reinkommen. Aber dann merkte ich, dass du nicht mehr bei mir warst. Ich fing an, dich überall zu suchen …«
    Ich unterbrach sie. »Das ist einfach zu deuten. Das war eine Metapher. Du hast Angst davor, allein zu sein. Wahrscheinlich plagen dich Ängste, dass ich zum College gehe. Aber ich habe dir schon mal gesagt, dass ich New York auf gar keinen Fall verlasse, du musst dir also keine Gedanken machen.«
    »Nein! Jetzt hör dir doch die ganze Geschichte an! Als die Mörder reinkommen, gucke ich hoch, und da sitzt du in Daddys Stuhl. Du bist Daddy! Und ich muss zusehen, wie sie dir in den Kopf schießen.« Wieder musste Natty weinen. »Es war so furchtbar, Annie. Ich sah dich sterben. Ich sah dich sterben.«
    »Das wird niemals geschehen, Natty«, sagte ich. »Zumindest nicht auf diese Art und

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