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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Weise. Was hat Daddy uns immer gesagt?«
    »Daddy hat viel gesagt.« Sie schniefte.
    Ich verdrehte die Augen. »Was hat Daddy uns immer gesagt, warum wir in Sicherheit sind?«
    »Weil sich niemand an den Verwandten vergreift.«
    »Genau.«
    »Und was mit Mom und Leo passiert ist, was ist damit?«, fragte Natty.
    »Das war ein Versehen. Eigentlich galt der Anschlag Daddy. Leider saßen Mom und Leo im Wagen. Außerdem sind die Menschen, die das gemacht haben, alle nicht mehr da.«
    »Aber …«
    »Natty, das könnte heute nie wieder passieren. Niemand versucht, einen von uns umzubringen, weil keiner von uns mehr im Familiengeschäft aktiv ist. Es gibt keinen Grund, sich mit uns abzugeben. Das ist lächerlich!«
    Natty dachte darüber nach, was ich gesagt hatte. Sie runzelte die Stirn und schob die Unterlippe vor. »Wahrscheinlich hast du recht. Jetzt komm ich mir irgendwie dumm vor.«
    Sie legte sich wieder hin, ich zog die Decke hoch bis an ihr Kinn.
    »Hattest du Spaß mit Win?«, fragte sie.
    »Das erzähle ich dir morgen.« Ich senkte die Stimme. »Er ist immer noch hier in der Wohnung.«
    »Annie!« Sie bekam große Augen vor Entzücken.
    »Ist eine lange Geschichte und wahrscheinlich längst nicht so aufregend, wie du dir jetzt ausmalst, Natty. Er übernachtet nur auf der Couch.«
    Als ich das Licht ausmachen wollte, rief sie mich noch einmal zu sich. »Hoffentlich hat Win mich nicht schreien gehört«, sagte sie. »Sonst meint er noch, dass ich ein kleines Kind bin.«
    Ich versprach ihr, es ihm zu erklären, ohne zu viel von unseren Angelegenheiten zu verraten, und sie lächelte. »Du bist kein kleines Kind, nur weil du Albträume hast, Natty. Als du klein warst, ist dir etwas Schreckliches zugestoßen, deshalb hast du die Albträume. Das ist nicht deine Schuld.«
    »Du hast aber keine«, bemerkte sie.
    »Nein, ich laufe nur rum und gieße Jungen Spaghettisoße über den Kopf.«
    Natty lachte. »Gute Nacht, mutige Anya.«
    »Träum was Schönes, Natty.« Ich blies ihr einen Kuss zu und schloss die Tür.
    Anschließend ging ich in die Küche und goss mir ein Glas Wasser ein. In der Vorschule hatten uns die Lehrer ein unglaublich lahmes Lied zum Wassersparen beigebracht, das hieß »Erst denken, dann trinken«. Es musste sich mir tief eingeprägt haben, denn bis heute kann ich kein Wasser laufen lassen, ohne im Kopf die Kosten dafür auszurechnen. In letzter Zeit hatte ich oft an das Lied gedacht, weil mir als Verwalterin des Haushaltsgeldes aufgefallen war, dass der Milliliterpreis auf jeder Monatsrechnung gestiegen war. Daddy hatte uns sehr viel Geld hinterlassen, doch ich bemühte mich, solche Dinge nicht aus den Augen zu verlieren.
    Ich trank das Glas leer und ließ noch eins volllaufen. Gott sei Dank war Wasser noch nicht rationiert. Ich hatte einen Riesendurst, und obwohl ich versucht hatte, Nattys Traum als unwichtig abzutun, hatte er mich berührt.
    Es gab zwei Dinge, die ich ihr nicht erzählt hatte.  
    Zum einen würde ich jeden umbringen, der versuchte, ihr oder Leo etwas anzutun.
    Zum anderen war ich nicht mutig. Ich hatte ebenfalls Albträume. Häufiger als angenehme Träume. Anders als Natty war es mir bloß gelungen, nur innerlich zu schreien.
    Im Wohnzimmer konnte ich Win hören. »Tut mir leid, dass wir alle so laut sind«, rief ich ihm zu.
    Er kam in die Küche. »Kein Problem«, sagte er. »Die Sperrstunde ist um sechs aufgehoben, deshalb kann ich mich bald auf den Weg machen.«
    Im Dämmerlicht konnte ich sehen, dass seine Wange von Leos Ellenbogencheck ziemlich stark geschwollen war. »Du liebe Güte, dein Gesicht!«, rief ich.
    Er betrachtete sein Spiegelbild in unserem verchromten Toaster. »Mein Vater denkt bestimmt, ich hätte mich geprügelt.« Er grinste.
    »Wird er sauer sein?«
    »Wahrscheinlich findet er, das Ganze würde zur Bildung meines Charakters beitragen oder so«, erwiderte Win. »Er findet mich zu lasch.«
    »Stimmt das?«, fragte ich.
    »Na ja, ich bin jedenfalls nicht so wie er.« Win hielt kurz inne, dann sprach er weiter. »Möchte ich auch nicht sein.«
    Die Uhr am Ofen sprang auf 06.00. »Ich bringe dich zur Tür«, sagte ich.
    An der Tür kam eine gewisse Verlegenheit zwischen uns auf; ich wusste nicht genau, wie ich mich verabschieden sollte. Win hatte zu viel gesehen und wusste zu viel über mich. Es gab Leute, mit denen ich jahrelang zur Schule gegangen war, die weniger über mein Privatleben wussten. Fast neun Monate war ich mit Gable zusammen gewesen, und er

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