Bitterzart
erklären, dass er bei mir übernachten würde.
Scarlet ging ins Bad, sie musste ein paar ziemlich große Blasen an ihren Füßen versorgen, und ich brachte Leo ins Bett. Ich half ihm, seine Sachen auszuziehen, die während des Anfalls beschmutzt worden waren, und in seinen Pyjama zu schlüpfen.
»Gute Nacht«, sagte ich und gab meinem Bruder einen Kuss auf die Stirn. »Hab dich lieb, Leo.«
»Meinst du, Scarlet hat es gesehen?«, fragte er, als ich das Licht ausmachte.
»Was?«, fragte ich.
»Dass ich … in die Hose gemacht hab.«
»Nein. Glaub ich nicht. Außerdem kannst du nichts dafür. Und selbst wenn sie es gesehen hat, sie hat dich gern, Leo.«
Er nickte. »Tut mir leid, wenn ich dir den Abend verdorben hab, Annie.«
»Bitte«, sagte ich. »Ich hatte einen schrecklichen Abend, bevor du kamst. Durch dich wurde es wenigstens interessant.«
Ich steckte den Kopf in Nattys Zimmer. Sie war zwar schon zwölf Jahre, aber sah im Schlaf immer noch wie ein Baby aus.
Dann ging ich ins Bad, wo Scarlet ein Pflaster auf eine ihrer Blasen klebte. »Bevor du auch nur einen Ton sagst, Miss Balanchine, es hat sich voll und ganz gelohnt«, sagte sie. »Ich sah umwerfend aus.«
»Das stimmt«, bestätigte ich. »Willst du Win ein paar Decken ins Wohnzimmer bringen?«, schlug ich vor.
Scarlet lächelte. »Dieser Junge«, sagte sie mit einem aufgesetzten, Spanisch klingenden Akzent. »Er ist nicht für mich.«
»Aber ihr mögt beide Mützen«, sagte ich.
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Und er ist bezaubernd. Aber leider«, sie setzte wieder diesen seltsamen Akzent auf, »wie sagt man? Stimmt nicht Chemie, Señorita.«
»Tut mir leid«, sagte ich.
Sie wechselte zu Französisch. » C’est la vie. C’est l’amour .« Sie schminkte sich mit einem Tuch ab. »Besser, du bringst ihm die Decken, Anya.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Das soll heißen, es macht mir nichts, wenn du Win die Decken bringst.«
»Ich will nichts von ihm«, protestierte ich. »Falls du das mit ›die Decken bringen‹ meinst.«
Scarlet gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich weiß eh nicht, wo bei euch die Bettwäsche liegt.«
Ich ging in den Flur und holte für Win eine Garnitur Bettbezüge aus dem Schrank.
Er war im Wohnzimmer, hatte sein Hemd ausgezogen, trug aber noch die Hose und ein schlichtes weißes Unterhemd.
»Noch mal danke«, sagte ich zu ihm.
»Geht’s wieder mit deinem Bruder?«, fragte er.
Ich nickte. »Er schämt sich hauptsächlich.« Ich legte die Bettwäsche auf die Couch. »Das ist für dich. Das Badezimmer ist im Flur. Zweite Tür hinter meinem Zimmer und vor Nattys und Leos Zimmer, aber falls du im Zimmer von meiner sterbenden Großmutter landest, bist du auf jeden Fall zu weit gelaufen. Die Küche ist direkt hier vorn, aber die ist so gut wie leer. Heute ist Freitag, ich schaffe es nur am Wochenende, mich um rationierte Ware zu streiten. Also: Gute Nacht.«
Er setzte sich auf die Couch. Sein Gesicht wurde von der Tischlampe beleuchtet. Ich merkte, dass er einen roten Fleck auf der Wange hatte, der am nächsten Tag wahrscheinlich blauschwarz sein würde. »O nein! War das Leo?«
Win berührte seine Wange. »Er hat mich mit dem Ellenbogen gestoßen, glaub ich, als er … das war ein Grand-Mal-Anfall, oder?«
Ich nickte.
»Meine Schwester hatte früher auch solche Anfälle«, sagte er. »Also … ja, das kommt wohl von seinem Ellenbogen. Tat nicht besonders weh, deshalb dachte ich, man würde nichts sehen.«
»Ich hol dir besser ein bisschen Eis.«
»Schon gut.«
»Nein, dann wird der blaue Fleck nicht so groß«, beharrte ich. »Warte kurz.«
Ich ging in die Küche und holte eine Tüte Erbsen aus dem Tiefkühler, die ich ihm ins Wohnzimmer brachte. Er bedankte sich und drückte die Tüte auf seine Wange. »Bleib noch ein bisschen. Ich kann eh nicht schlafen, solange ich mir die Erbsen ins Gesicht drücken muss.«
Ich setzte mich in den prallgepolsterten dunkelroten Samtsessel neben dem Sofa und schlang die Arme um ein türkisfarbenes Chinoiserie-Kissen – mein Abwehrschild, sozusagen. »Du bereust bestimmt, mit uns ausgegangen zu sein«, bemerkte ich.
Win schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wirklich.« Er verrückte den Erbsenbeutel ein wenig. »Kommt mir vor, als würde immer was Interessantes passieren, wenn du in der Nähe bist.«
»Ja. Ich bringe nur Ärger.«
»Das glaube ich nicht. Du bist einfach nur ein Mädchen, das eine Menge um die Ohren hat.«
Die Art und Weise, wie er das sagte,
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