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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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als würden Sie sehr lange hierbleiben müssen – es sprachen so viele Punkte gegen Sie –, und ich finde, dass es für uns alle leichter ist, wenn ich bei den Neuzugängen besonders am Anfang sehr streng bin. Das ist mein inoffizieller Grundsatz. Auf diese Weise wissen die Mädchen genau, was sie hier erwartet. Besonders diejenigen, die bisher so privilegiert gelebt haben wie Sie –«
    Ich konnte mir das nicht länger anhören. »Sie reden immer von meinem privilegierten Leben«, sagte ich. »Aber Sie kennen mich gar nicht, Mrs. Cobrawick. Sie glauben, etwas über mich zu wissen, was Sie in der Zeitung über meine Familie und so weiter gelesen haben. Aber in Wirklichkeit haben Sie nicht die geringste Ahnung.«
    »Aber –«, warf sie ein.
    »Wissen Sie, einige der Mädchen hier sind unschuldig. Und selbst wenn sie das nicht sind, liegt das, was sie getan haben, weit zurück, und sie versuchen nur, ihr Bestes zu tun, um weiterzukommen. Vielleicht könnten Sie Menschen von heute an danach beurteilen, welche Erfahrungen Sie selbst mit ihnen machen. Das wäre vielleicht mal ein guter inoffizieller Grundsatz.« Ich wandte mich zum Gehen.
    »Anya!«, rief sie. »Anya Balanchine!«
    Ich drehte mich nicht um, doch sie kam mir nach. Zwei Sekunden später spürte ich ihre klauenartige Hand auf meinem Arm.
    »Was ist?«
    Mrs. Cobrawick griff nach meiner Hand. »Bitte erzählen Sie Ihren Freunden bei der Staatsanwaltschaft nicht, dass Sie hier schlecht behandelt wurden! Ich kann keinen Ärger gebrauchen. Ich war … ich war dumm genug, nicht zu überlegen, wie gut die Beziehungen Ihrer Familie immer noch sind.«
    »Ich habe keine Freunde in der Staatsanwaltschaft«, sagte ich. »Und selbst wenn, stände Ihnen Ärger zu machen ziemlich weit unten auf meiner Liste von den Dingen, um die ich mich kümmern muss. Am liebsten wäre mir, wenn ich Sie und diesen Ort niemals in meinem Leben wiedersehen müsste.«
    »Und was ist mit Charles Delacroix?«
    Wins Vater? »Den kenne ich nicht«, sagte ich.
    »Tja, er wartet draußen auf Sie. Er ist persönlich gekommen, um Sie nach Manhattan zurückzubringen. Sie sind wirklich ein Glückskind, Anya, dass Sie so einflussreiche Freunde haben und es nicht mal wissen.«

    Wins Vater sollte mich im Ausgangszimmer treffen, ein für die Mädchen vorgesehener Bereich, die Liberty verließen. Das Ausgangszimmer war aufwendiger eingerichtet als jeder andere Raum der Anstalt, ausgenommen vielleicht Mrs. Cobrawicks Quartier. Dort standen Messinglampen und dick gepolsterte Couchgarnituren, an den Wänden hingen Schwarzweiß-Fotos von Immigranten, die auf Ellis Island eintrafen. Mrs. Cobrawick leistete mir Gesellschaft. Ich hätte viel lieber allein gewartet.
    Obwohl ich damit gerechnet hätte, dass ein so einflussreicher Mann ein Gefolge hatte, kam Charles Delacroix ganz allein. Er sah aus wie ein Superheld, nur ohne Mantel. Er war größer als Win, und sein Kiefer war breiter, so als könne er damit Felsen zermalmen. Er hatte größere und kräftigere, aber auch viel weichere Hände als Win. Keine Feldarbeit für Charles Delacroix.
    »Sie müssen Anya Balanchine sein«, sagte er fröhlich. »Ich bin Charles Delacroix. Wir fahren zusammen mit der Fähre rüber, in Ordnung?« Es wirkte, als gäbe es nichts, das er lieber tun würde, als die Tochter eines Mafioso auf der Bootsfahrt zurück nach Manhattan zu begleiten.
    Mrs. Cobrawick wurde munter. »Wir fühlen uns außerordentlich geehrt, dass Sie unsere Einrichtung besuchen, Mr. Delacroix. Ich bin Evelyn Cobrawick, die Leiterin hier.«
    Charles Delacroix reichte ihr die Hand. »Ja. Wie unhöflich von mir. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Cobrawick.«
    »Möchten Sie vielleicht einmal herumgeführt werden, da Sie gerade her sind?«
    »Dafür ist heute leider keine Zeit«, sagte Charles Delacroix. »Aber wir sollten einen Termin dafür ausmachen.«
    »Sehr gerne«, sagte Mrs. Cobrawick. »Es würde mich freuen, wenn Sie sich Liberty ansehen würden. Wir sind sehr stolz auf unsere bescheidene Einrichtung. Ehrlich gesagt, betrachten wir sie lieber als ein Heim oder auch ein Zuhause.« Mrs. Cobrawick unterstrich diese Bemerkung mit einem bescheidenen Lächeln.
    »Ein Zuhause?«, wiederholte Charles Delacroix. »So nennen Sie das hier?«
    »Ja«, sagte Mrs. Cobrawick. »Es mag Ihnen lächerlich vorkommen, aber ich stelle es mir so vor.«
    »Nicht lächerlich, Mrs. Cobrawick, nur vielleicht ein wenig unaufrichtig. Sehen Sie, ich bin in einer Einrichtung

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