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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie sind eine sehr zynische junge Dame, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich. »Das stimmt wohl.«
    »Zynisch und respektlos. Vielleicht können wir daran arbeiten, solange Sie hier sind. Wärter!«
    Ein Wachmann tauchte auf. »Ja, Ma’am?«
    »Das hier ist Mis. Balanchine«, erklärte Mrs. Cobrawick. »Sie hat ein sehr privilegiertes Leben geführt und könnte meiner Meinung nach davon profitieren, eine Weile im Keller zu verbringen.«
    Mrs. Cobrawick ging davon und überließ mich dem Wärter. »Sie müssen sie echt angekotzt haben«, sagte er, sobald sie außer Reichweite war.
    Ich wurde mehrere Treppen hinunter in den Keller des Gebäudes geführt. Es roch faulig, eine vernichtende Mischung aus Exkrementen und Schimmel. Obwohl ich niemanden sehen konnte, hörte ich Stöhnen und Kratzen, unterbrochen von dem einen oder anderen Schrei. Der Wachmann brachte mich in einen winzigen, verschmutzten, lichtlosen Raum, in dem es nur wenig Luft gab. Man konnte nicht einmal aufrecht stehen. Ich konnte nur sitzen oder liegen, wie in einer Hundehütte.
    »Wie lange muss ich hierbleiben?«, fragte ich.
    »Kommt drauf an«, gab er zurück, während er die Tür zumachte und das Schloss verriegelte. »Normalerweise so lange, bis Mrs. Cobrawick meint, Sie hätten Ihre Lektion gelernt. Ich hasse diesen verfluchten Job. Versuch einfach, nicht durchzudrehen, Mädchen.«
    Das waren die letzten Worte, die sehr lange Zeit mit mir gesprochen wurden.
    Der Wachmann hatte mir einen guten Rat erteilt, der, wie sich herausstellte, fast unmöglich zu befolgen war.
    Fehlt es an visuellen Impulsen, beschwört das Gehirn alle möglichen Dinge herauf. Ich spürte, wie mir Ratten über die Beine und Kakerlaken über die Unterarme liefen, meinte Blut zu riechen, verlor das Gefühl in den Beinen. Ich bekam Rückenschmerzen und hatte einfach nur Riesenangst.
    Wie war ich überhaupt hier gelandet?
    Ich hatte Albträume, die zu furchtbar waren, um sie wiederzugeben. Natty, der im Central Park in den Kopf geschossen wurde. Leo, der sich auf der Treppe des Little Egypt immer wieder den Kopf einschlug. Und ich die ganze Zeit hinter Gitterstäben, unfähig zu reagieren.
    Einmal wachte ich auf, weil ich jemanden schreien hörte. Ich brauchte ungefähr eine Minute, bis ich merkte, dass ich es selbst war.
    Auch wenn ich bezweifelte, dass es Mrs. Cobrawicks Absicht gewesen war, lernte ich etwas über den Wahnsinn, als ich dort unten war. Menschen werden nicht verrückt, weil sie krank sind, sondern weil es in einer bestimmten Situation die beste Lösung ist. Auf gewisse Weise wäre es einfacher gewesen, den Verstand zu verlieren, weil ich dann nicht hätte dort bleiben müssen.
    Ich verlor jedes Zeitgefühl.
    Ich betete.
    Alles roch nach Urin.
    Ich nahm an, dass er von mir war, versuchte aber, nicht darüber nachzudenken.
    Der einzige Kontakt zu Menschen fand statt, wenn ein altbackenes Brötchen und ein Metallbecher mit Wasser durch einen Schlitz in der Tür geschoben wurden. Ich wusste nie, in welchem Abstand das nächste Essen kommen würde.
    Vier Brötchen waren gekommen.
    Dann fünf.
    Beim sechsten Brötchen öffnete eine andere Wache die Tür. »Sie können gehen«, verkündete die Wärterin.
    Ich rührte mich nicht, unsicher, ob die Frau keine Halluzination war.
    Sie leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Es brannte in den Augen. »Ich habe gesagt, Sie können gehen.«
    Ich wollte mich nach draußen schieben, aber stellte fest, dass ich die Beine nicht bewegen konnte. Die Wachfrau zog mich an den Armen heraus, und langsam kehrte das Gefühl in die Beine zurück.
    »Muss mich hinsetzen«, krächzte ich. Meine Stimme klang gar nicht mehr nach mir. Mein Hals war so trocken, dass ich kaum ein Wort herausbekam.
    »Na los, Schätzchen«, sagte die Wärterin. »Das wird schon wieder. Ich bringe Sie an einen Ort, wo Sie sich frisch machen können, und dann können Sie gehen.«
    »Gehen?«, fragte ich. Ich musste mich auf die Frau stützen. »Meinen Sie, den Keller verlassen?« 
    »Nein, ich meine: Liberty verlassen«, sagte sie. »Sie wurden entlastet.«

IX.
    Ich finde einen einflussreichen Freund und dann einen Feind
    Wenn ich vorsichtig geschätzt hätte, wie lange ich im Keller gewesen war, hätte ich auf eine Woche getippt, wäre aber nicht überrascht gewesen zu hören, dass es einen Monat oder länger gedauert hatte.
    Tatsächlich waren es nur zweiundsiebzig Stunden gewesen.
    Es stellte sich heraus, dass in

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