Bitterzart
wie dieser groß geworden. Keine Erziehungsanstalt, sondern ein Waisenhaus. Und Sie können mir glauben, dass diejenigen, die innerhalb der Mauern so eines Ortes eingesperrt sind, ihn nicht als ihr Zuhause betrachten.« Charles Delacroix wandte sich an mich. »Aber Sie haben Glück, denn Miss Balanchine ist meine Reisebegleiterin, und ich kann mir vorstellen, dass sie mir auf der Bootsfahrt die Vorzüge von Liberty wird bestätigen können.«
Ich nickte, aber sagte nichts. Sollte Mrs. Cobrawick ruhig ein wenig zittern. Ich verschränkte die Arme, und Charles Delacroix entdeckte, dass sich eine Einstichstelle der Spritzen entzündet hatte und eiterte. »Ist das hier mit Ihnen passiert?«, fragte er leise.
»Ja.« Ich zog den Ärmel meiner Bluse darüber. »Aber es tut nicht besonders weh.«
Sein Blick huschte von meinem Arm zur Hand und von dort zu den aufgerissenen Fingerkuppen. »Und das auch, nehme ich an.«
Ich schwieg.
»Ich frage mich, Mrs. Cobrawick, ob das die Art von Verletzungen sind, die Kinder in einem Zuhause erleiden müssen.« Er klemmte meinen Arm unter seinen. »Den Rundgang werden wir noch nachholen, Mrs. Cobrawick. Aber vielleicht komme ich lieber unangemeldet vorbei.«
»Ihre Vorgängerin hatte nie etwas an der Art und Weise auszusetzen, wie ich Liberty führe«, rief Mrs. Cobrawick.
»Ich bin aber nicht meine Vorgängerin«, erwiderte der stellvertretende Staatsanwalt.
Als wir auf der Fähre zurück nach Manhattan waren, sagte Charles Delacroix: »Ein furchtbares Haus. Ich bin froh, da raus zu sein. Sie bestimmt auch.«
Ich nickte.
»Und eine furchtbare Frau«, fuhr er fort. »Mein Leben lang habe ich mit solchen Cobrawicks zu tun gehabt. Engstirnige Bürokraten, die sich an ihrem kleinen Zipfel der Macht festklammern.« Er schüttelte den Kopf.
»Warum unternehmen Sie dann nicht etwas wegen Liberty?«, wollte ich wissen.
»Das werde ich wohl irgendwann tun müssen. Aber die Stadt hat so viele ernsthafte Probleme, und ich habe ganz ehrlich nicht die Kapazitäten, mich um alles gleichzeitig zu kümmern. Liberty ist ein Trauerspiel. Diese Frau ist ein Trauerspiel. Aber sie sind, zumindest fürs Erste, zu handhaben.« Mr. Delacroix schaute über die Reling aufs Wasser. »So was nennt man Prioritäten , meine Liebe.«
Diesen Begriff kannte ich sehr gut. Er war das Organisationsprinzip meines gesamten Lebens.
»Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Sie überhaupt nach Liberty gebracht wurden. Das war ein Fehler. In meiner Abteilung haben ein paar Leute bei der Vorstellung eines jugendlichen Giftmörders einen gewissen Übereifer an den Tag gelegt, und als sie hörten, dass das kriminelle Element die Tochter von Leonyd Balanchine ist, wurden sie regelrecht hysterisch. Sie meinten es gut, aber sie sind … Es dauerte ein paar Tage, aber Sie sind natürlich vollständig rehabilitiert. Ihr Anwalt, Mr. Green, hat sich sehr überzeugend für Sie eingesetzt. Zum Glück hat der junge Mann … Gable heißt er doch, oder?«
Ich nickte.
»Es geht ihm wieder besser. Er hat noch eine lange Genesung vor sich, aber er wird es auf jeden Fall schaffen.«
»Das freut mich zu hören«, sagte ich schwach. Ich fühlte mich wie in Narkose, war gar nicht ich selbst.
»Sie gehen mit meinem Sohn zur Schule?«, fragte Charles Delacroix.
»Ja«, bestätigte ich.
»Win hält sehr viel von ihnen«, bemerkte er.
»Ich mag ihn auch«, gab ich zurück.
»Ja. Das habe ich befürchtet.« Charles Delacroix sah mir in die Augen. »Hören Sie, Anya – darf ich Sie Anya nennen?«
»Ja.«
»Also, Anya, ich merke, dass Sie eine sehr vernünftige junge Dame sind. Woher ich das weiß? In Liberty hätten Sie die Gelegenheit ergreifen und Mrs. Cobrawick vor meinen Augen vernichten können. Das haben Sie nicht getan. Sie dachten schon an Ihren nächsten Schritt. Aus der Anstalt rauszukommen. Das bewundere ich. Gerissenheit nennt man so was wohl, und das fehlt meinem Sohn. Und ich verstehe auch, warum Win Sie mag. Sie sehen sehr gut aus und haben, gelinde gesagt, einen aufregenden Hintergrund. Aber Sie können niemals die Freundin meines Sohnes sein.«
»Wie bitte?«
»Ich kann nicht zulassen, dass Sie sich mit Win treffen. Wir beide sind praktisch veranlagt, Anya. Wir sind beide Realisten. Deshalb weiß ich, dass Sie mich verstehen. Ich habe eine sehr schwierige Position. Wie sehr ich mich auch bemühe, in dieser Stadt aufzuräumen, ich kann trotzdem versagen.« Charles Delacroix senkte den Kopf, als sei das
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