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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Felice
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dem sie die Nacht verbracht hatten. Es war kalt um diese Stunde. Und weit und breit war nur ein anderes Auto zu sehen, ein klappriges rotes Ding mit einem Pappschild hinter der Windschutzscheibe, auf dem zu lesen war: »850 Dollar oder höchstes Gebot«.
    Sie parkten an einem wenig befahrenen Highway, den sie noch nie gesehen hatte. Ein Stück weiter stand eine Garage, auf der anderen Straßenseite ein weißer Trailer, aber sonst war nichts zu sehen als Wald. Als sie sich wieder zu den Bäumen umdrehte, unter denen sie geparkt hatten, sah sie ein großes hölzernes Schild: »Mystery Spot«.
    Die Zeit und das Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen, aber sie konnte die Schrift noch problemlos lesen. Was muss es in einem neunjährigen Mädchen auslösen, wenn ihr das Schicksal einen derartigen Wink gibt? Zu einem Zeitpunkt, an dem die zarten Geheimnisse dieser Welt noch nicht ausgesaugt wurden wie das Benzin aus einer gefräßigen Kettensäge. Es war, als würde sie das Schild magisch anziehen. Mystery Spot. Als sie näher trat, entdeckte sie eine Metallkiste mit der Aufschrift: »Nimm dir eins.« Sie holte gerade einen der Prospekte heraus, als sie ihre Mutter rufen hörte: »Komm zum Auto – wir müssen weiter.« Sie faltete den Zettel und steckte ihn in ihre Jeans.
    Gloria starrt in ihren kalten Kaffee. Sie schließt die Augen, atmet langsam, öffnet die Augen, dann ihren Rucksack, sucht und findet ein zerknittertes Papier, das sie vor sich auf den Tisch legt: Mystery Spot.
    Der Regen läuft seitwärts am Fenster ab, ein Mann in der nächsten Sitzecke hustet – und das Schmerzmittel, das sie genommen hat, zeigt keinerlei Wirkung. Sie sitzt in der Trostlosigkeit der Raststätte und öffnet das Faltblatt, dieses Relikt ihrer Kindheit, das sie überall mitgenommen hat, durch all ihre Tränen und Neuanfänge:

    Tief im Herzen der Catskills finden Sie diesen magischen Ort. Ein unerklärliches Phänomen der Schwerkraft sorgt hier für haarsträubende Attraktionen, die Sie und Ihre ganze Familie faszinieren werden.
    WILLKOMMEN AM MYSTERY SPOT, wo das Wasser bergauf fließt, Stühle ganz wie von selbst tanzen und die Dinge nicht sind, was sie zu sein scheinen.
    Sie finden uns auf der Route 32, nicht weit vom New York Thruway, nördlich von Carson City und gleich in der Nähe des Ortes, wo sich Rip Van Winkle zu seinem langen Schlaf niederlegte.
    ERWACHSENE: $ 5 / KINDER UND SENIOREN: $ 2.50
    Versuchen Sie Ihr Glück und besuchen den Mystery Spot, wo selbst das Unmögliche möglich wird.

Lionel White
    LIONEL WHITE
    In der Lobby des Tigris Hotel klingelt das Telefon, aber der Mann vom Empfang kann nicht rangehen, weil er tot ist. Er ist genauso steif wie die Plastikblumen neben ihm – anders als der Gefreite Lionel White, der mitten auf der Treppe steht, sein schwarzes Maschinen gewehr vor der Brust, den Rücken gegen die Wand.
    Dieses gottverdammte Telefon.
    Wie Farbe aus der Sprühdose überzieht eine beängstigende Stille das erste Stockwerk. Selbst die Staubmilben, die in einem Lichtstrahl über seinem Helm tanzen, halten für einen Moment inne und bewegen sich nicht.
    Und wieder dieses furchtbare Telefon.
    Schüsse, und dann bricht in Zimmer 213, sechs Stufen über ihm, das Inferno los. Als hätte er nicht schon alle Hände voll zu tun. Unseren Marine zieht es nach unten, schließlich muss ja einer den Hörer abnehmen.
    Dass es seine eigene Stimme ist, die dort am anderen Ende der Leitung wartet, macht seinen Traum nicht erträglicher. Es ist nur ein weiterer Flicken in seiner Patchworkdecke, die sich jede Nacht aus Schmerz und Farben und Gestank neu zusammensetzt – hier oben in der Mansarde, die er seit seiner Rückkehr aus der Wüste bewohnt. Mit Babar, dem Elefanten, in seinem Bett.
    »Hallo.«
    »Hi Lionel.«
    »Wer spricht dort?«
    »Du weißt genau, wer hier spricht.«
    »Warum musst du mich gerade jetzt anrufen? Im ersten Stock sterben die Leute wie Fliegen.«
    »Ich hab Angst.«
    »Angst wovor?«
    »Weiß nicht.«
    »Nun spuck’s schon aus, du Memme.«
    »Ich kann nicht.«
    »Sag es!«
    »Ich hab Angst, dass dir was zustoßen könnte.«
    Schweigen am anderen Ende. Schreie und Maschinengewehrsalven aus dem Chaos im ersten Stock, eine tödliche Stille in der Lobby. Der tote Mann ist noch immer tot. Sein Kopf lehnt gegen einen Schreibtisch, die Arme weit ausgebreitet. Eine kleine schwarze Fliege auf seiner braunen Hand. Heute hat die Tochter des toten Mannes ihren fünften Geburtstag. Sie wurde in der Nacht

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