Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Wendig
Vom Netzwerk:
um den Abzug zu krümmen, aber er ist steif. Zu steif für so eine einfache Bewegung. Stattdessen liegt der Finger über dem Abzugshahn, ein Wurm auf einer sonnendurchglühten Straße.
    Es ist vorbei , denkt sie.
    Bald ist Louis tot. Sie weiß nicht, wie viel Uhr es ist, aber sie kann in jedem einzelnen, dumpfen Pulsschlag spüren, dass die Zeit nah ist.
    Das Tagebuch ist voll.
    Sie war intime Zeugin so vieler Tode.
    Warum nicht ihres eigenen?
    Das ist ihre Macht. Das ist es, was sie dem Schicksal wegnehmen kann. Sie kann ihr eigenes Leben in die eigenen Hände nehmen und es dem Griff der Vorsehung entreißen.
    Ihr Finger krümmt sich um den Abzug.
    Da erreicht sie die Stimme ihrer Mutter, wie ein weit fort gesungenes Lied, das von einer sanften Brise herangetragen wird.
    » Dein Auge soll sie nicht schonen; Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß. «
    Sie hebt die Waffe.
    Harriet lauscht. Ihr Ohr ist fest an die Tür gepresst.
    Sie hört, wie dieses dumme Mädchen sich bewegt, langsam und kriechend. Wie der Arm über den Boden wischt. Ein Stöhnen. Das schwache Rütteln des Pistolenmechanismus in einem unsicheren Griff.
    Harriet lächelt.
    Das wird wirklich der Höhepunkt ihres Schaffens sein.
    Sie hat schon früher Leute dazu gebracht, sich selbst zu verletzen, aber nicht so.
    Ein Teil von ihr fühlt sich schlecht. Das stört sie irgendwie. Ja, sie hat eine gewisse Sympathie für dieses Mädchenempfunden, aber Schuld? Sie hatte keine Schuldgefühle mehr seit ... nun, wann war es das letzte Mal? Hatte sie je Schuldgefühle?
    Ein saures Gefühl entsteht in ihrem Magen. Schuld. Das ist nutzlos.
    Ein Geräusch unterbricht den leisen Nachhall der Gewissensbisse in ihr: das Geräusch eines Abzugshahns, der gespannt wird.
    Gutes Mädchen, denkt Harriet. Das ergibt Sinn. Den Hahn zurückziehen ist einfacher, als wenn man den Abzug selbst betätigt. Das Mädchen ist einfach fertig. Hat wahrscheinlich kaum noch Kraft.
    Sie muss die Pistole ja auch kaum heben. Nur ein winziges Stück, ein kleines Drehen gegen den Uhrzeigersinn, dann liegt der Lauf unter ihrem Kinn und dann ...
    Genau aufs Stichwort geht die Pistole los.
    Peng .
    Harriets Lächeln wird breiter.
    Als die Pistole losgeht, erzittert die Tür – wahrscheinlich ist das Bein des Mädchens dagegengetreten. Schon bald wird sich der Gestank von entleerten Gedärmen ausbreiten, ein Geruch, der wirklich nur durch die Assoziationen erträglich sein wird, die Harriet damit verbindet.
    Harriet geht einen Schritt von der Tür fort und fühlt auf einmal einen scharfen Schmerz im Kopf.
    Sie stolpert und fällt beinahe, als sie nach der Klinke greift.
    Sie versucht, laut zu sprechen: »Warum ist meine Schulter so nass?«
    Aber die Worte wollen sich nicht formen. Sie können es nicht. Ihr Mund reagiert nicht auf die Wünsche ihres Gehirns.
    Harriet riecht so etwas wie brennendes Haar.
    Ein kleines ›o‹ ist in der Mitte der Tür zu sehen. Rauch kräuselt sich durch das Loch, das etwa den gleichen Durchmesser hat wie ein Bleistift.
    Harriet greift sich ans Ohr und zieht eine feuchte, rote Hand wieder fort.
    Sie sagt etwas – etwas, das als bösartiger Fluch gemeint ist, eine wüste Beschimpfung dieser verblödeten Göre da in diesem blöden Badezimmer, die ihr grade in ihren blöden Kopf geschossen hat –, aber um ehrlich zu sein, sind ihr gerade alle Synapsen durcheinandergeraten.
    Was sie dann hervorbringt, ist eine ziemlich unsinnige Aussage: »Teppichnudel.«
    Dann stürzt sie zu Boden.
FÜNFUNDDREISSIG
    Eine Entscheidung fürs Leben
    Für Miriam ist die Entscheidung für das Leben nichts Großartiges, wie man es angesichts der enormen Möglichkeiten, die sich durch eine fortgesetzte Existenz ergeben, vielleicht hätte erwarten können. Vor ihrem inneren Auge laufen keine Filme von spielenden Kindern auf Schaukeln und Hunden im Garten und dem warmen Schimmer auf einem goldfarbenen Teich ab.
    Nein, wie es bei Miriam so oft der Fall ist, ist ihre Entscheidung fürs Leben eine, die auf Trotz und Wut fußt – ein Schluck Essig, der sie wieder einmal dazu bringt, ihre eigenen Pläne zu sabotieren.
    Sie hat sich wirklich umbringen wollen.
    Es ergab Sinn. Harriet hatte die Wahrheit gesagt.
    Ihr Leben war scheiße. Sie war dem Schicksal unterworfen. Sie war eine Fliege auf einem Scheißhaufen oder Schimmel, der eine perfekte Banane überzogen hat.
    Es war Zeit zu sterben, hat sie beschlossen.
    Miriam fühlte die Pistole auf der Brust, als

Weitere Kostenlose Bücher