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Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Wendig
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was du tun und sehen kannst, dann ist die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen kann, nicht weiter schwer. Hab ich recht?«
    »Das ist doch Blödsinn.«
    »Wirklich? Ich glaube, dein Selbstmord ist ein letzter Versuch, die Oberhand zu behalten. Du redest hier drin sehr oft von Schicksal. Aber du weißt immer noch nicht, wie du selbst stirbst, oder?« Harriet grinst. »Selbstmord ist deine Art, die Oberhand zu behalten. Es ist deine Art, diesen kleinen Jungen mit dem Ballon zu retten.«
    Zwei Tränen rinnen Miriam die Wange hinab, sie sind warm auf den blauen Flecken und den Wunden zu spüren.
    »Das ist in Ordnung«, sagt Harriet. »Ich verstehe das.«
    Es ist wahr , denkt Miriam. Das war tatsächlich die ganze Zeit ihr Plan. Das Ende des Tagebuchs ist leicht zu erraten. Jedes Mal, wenn sie jemandes Tod sieht – und von demjenigen stiehlt wie eine diebische Elster oder eine gierige Made –, schreibt sie einen Eintrag in ihr Tagebuch. Wieder eine Seite weiter, eine Seite auf das Finale hin. Sie wusste – und weiß – nicht, wie es passiert. Wenn die Zeit da ist, wird sie es tun, mit dem, was sich gerade ergibt. Die Welt bietet ihren Bewohnern eine Million Möglichkeiten zu sterben: Messer, Pistole, Tabletten, Feuer, vor ein Auto laufen, rückwärts über einen Klippenrand fallen, in die Mitte eines zufrierenden Sees schwimmen, den Boss einer Gang in die Eier treten. Sie könnte eine Handvoll Schotter am Rand einer Straße nehmen und essen. Sie könnte die Knarre eines Cops klauen und in eine Kindergartenversammlung rennen. Sterben ist leicht.
    Sie hat kein bestimmtes Szenario im Sinn, weil sich das cooler anfühlt, so, als überrasche sie ihrerseits das Schicksal und schleiche sich mit vorsichtigen Schritten an es heran. Aus dem gleichen Grund ist sie nie so direkt gewesen, es im Buch aufzuschreiben. Wenn sie es nie laut sagt, es nie niederschreibt, dann kann das Schicksal es auch nicht wissen.
    Bescheuerte Logik , denkt sie. Aber irgendein Teil von ihr ist sich da nicht so sicher.
    Harriet öffnet ihr Handy und tippt mit dem Daumen einpaar Mal auf eine Taste. Dann hebt sie das Handy hoch und zeigt Miriam das Display.
    Darauf ist ein wackliges Foto zu sehen, das mit der Handy-Kamera aufgenommen wurde. Es zeigt die Rückseite eines Sattelschleppers. Miriam weiß, wem er gehört, bevor Harriet es ihr sagt.
    »Sie haben deinen Freund gefunden. Sie verfolgen ihn gerade. Bald ist alles vorbei.«
    Augen. Gehirn. Ein rostiges Fischmesser. Leuchtturm.
    Miriam blinzelt die Tränen fort, aber diese kleinen Scheißdinger kommen immer wieder.
    Harriet hält das Tagebuch hoch. »Noch neun Seiten.«
    Dann reißt sie die leeren Seiten heraus, eine nach der anderen.
    Jede ist wie der Hieb eines Messers, der auf ihr Herz niedergeht. Jedes Ratsch schneidet tief ein, und Harriet nimmt sich Zeit damit, verlängert es, als wäre es wunderschöne Musik.
    Harriet wirft die leeren, zerrissenen Blätter über die Schulter fort.
    Dann ist sie bei der letzten Seite angekommen.
    »Liebes Tagebuch«, sagt Harriet, als lese sie echte Worte auf einer echten Seite vor. »Das ist mein letzter Eintrag. Mein Trucker-Freund starb einen schmerzhaften Tod von der Hand meines neuen Arbeitgebers. Das Leben ist sehr hart. Schicksal ist eben Schicksal und blablabla.«
    Dann reißt sie auch diese Seite heraus.
    Es ist dumm, aber Miriam kann es nicht mitansehen.
    Miriam hört das Flattern der Seite, als Harriet sie in die Luft wirft, aber sie sieht nicht zu. Dann erklingt das Geräusch eines Buchs, das auf den Boden fällt.
    Sie öffnet die Augen. Harriet steht direkt vor ihrem Gesicht, hat eine Pistole in der Hand und ein kleines Klappmesser.
    »Was machst du jetzt?«, will Miriam wissen.
    »Zeit zu gehorchen.«
    In einer schnellen Bewegung streckt Harriet die Hand aus und schneidet den Kabelbinder durch, der Miriams Hände über dem Duschkopf zusammenband. Miriam hat das nicht erwartet. Ihre immer noch gefesselten Füße – immer noch auf Zehenspitzen, immer auf den Zehenspitzen – können die Balance nicht halten, und sie stürzt vor. Weil ihre Muskeln schmerzen, weil sie überdehnt wurden und jetzt prickeln, da sie nicht durchblutet wurden, hat sie kein Gefühl darin und kann sie nicht richtig bewegen, und sie fällt ...
    Bumm.
    Sie schlägt sich den Kopf an der Kante des Waschbeckens an und taumelt, mit dem Bauch zuerst, in die Badewanne. Vor ihren Augen verschwimmt alles. Dunkle Punkte tanzen davor. Sie spürt, wie sich ihre Füße heben,

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