Blackhearts: Roman (German Edition)
kleines Mädchen! Du sagst gemeine Sachen.«
»Okay. Ja. Schon in Ordnung.« Er fängt an, zum Felsbrocken zurückzugehen.
Aber sie rennt um die andere Seite herum und kommt ihm zuvor, hebt das Gewehr wieder auf.
Er jubelt. »So ist’s recht! Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen! Lass uns auf was anderes schießen! Hier in der Gegend gibt’s ’nen Arschvoll Eichhörnchen, so viel ist sicher.«
Miriam angelt in ihrer Tasche nach einer Kugel, während er sich eine neue Zigarette ansteckt. Sie klappt den Lauf auf, steckt die Kugel ins Loch und lässt den Lauf wieder zuklappen.
Als Onkel Jack aufblickt, schaut er genau in den Lauf hinein.
»Sag es!«, fordert sie, immer noch weinend.
»Was sagen?«
»Sag, dass ich keine Killerin bin!«
»Nimm das verdammte Gewehr runter, sonst verletzt du noch jemanden!«
»Sag es!«, schreit sie.
Aber er beachtet sie nicht, marschiert auf sie zu und greift nach dem Gewehr. Doch Miriam weicht zurück und –
B iff!
Plötzlich hüpft Onkel Jack herum wie vom wilden Affen gebissen, er umklammert sein Knie, brüllt, und die Zigarette fällt ihm aus dem Mund. Er zieht die Hand weg – im Jeansstoff an seinem Knie prangt ein kleines, gezacktes Loch, die Wunde von der Kugel sieht aus wie eine aufgeplatzte Zecke.
Miriam läuft weg in den Wald.
Jack schreit ihr hinterher: »Besser, du erzählst deiner Mutter nichts davon!«
NEUNUNDVIERZIG
Leute vom gleichen Schlag
Tock, tock, tock .
Miriam ringt nach Luft, eingetaucht in Schatten.
Ein donnernder Lärm ertönt, wie brausendes Wasser, wie das Krachen der Meeresbrandung oder das schlammige Wirbeln des Susquehanna.
Tock, tock, tock .
Und über allem dieses Geräusch.
Tock, tock, tock .
Hände halten sie in dunklem Wasser fest, kaltem Wasser.
Miriam streckt die Hand aus. Der Schatten hat eine Form. Sie legt die Finger darum – ein Seil.
Doch es entgleitet ihrem Griff, und wieder ist sie unter der Oberfläche verschwunden, sinkt erneut in die frostigen Tiefen – das Geräusch klingt rauschend wie das Blut in ihren Ohren, ein Geräusch, als würde jemand durch geschlossene Zähne scharf die Luft einsaugen, während in der Ferne eine Trommel geschlagen wird.
Aber dort ist wieder das Seil. Miriam ergreift es und zieht, zieht, bis jede Synapse in ihrem Gehirn einen Salut abfeuert und weiße Lanzen aus Licht die nichtwissende Leere durchzucken –
Tock, tock, tock .
Sie reißt die Augen auf.
Über ihr ist ein Viereck aus grauem Licht, ein schmieriges, vom Wasser glitschiges Viereck.
Regen trommelt gegen das Oberlicht.
In der Mitte davon steht ein Rabe; das Glas trennt Miriams Welt – eine Welt, die sich merkwürdig warm anfühlt, sonderbar behaglich – vom kalten Regen da draußen.
Der Vogel pickt mit dem Schnabel gegen das Glas des Fensters.
Tock, tock, tock, tock, tock.
Dann erhebt er sich in die Luft, ein plötzliches Schwingen tintenfarbener Flügel, und er verschwindet im Wolkenbruch.
Miriam setzt sich auf, wozu es all ihrer Energie bedarf. Schmerz schießt durch sämtliche ihrer Gliedmaßen und Muskeln. Alles fühlt sich an, als sei es zu fest angezogen, wie bei einer Schraube mit kaputtem Gewinde.
Was sie dann sieht, kommt unerwartet.
Sie befindet sich in einem Bett. Ein schmales Doppelbett. Weiße Laken und eine weiße Daunendecke – sie merkt, dass es Daunen sind, weil eine der Federn heraussteht und ihr in die Hand piekst.
Eine Hand, die in Verbandsmull eingewickelt ist. Miriam streckt die Füße unter der Decke hervor und sieht, dass auch sie verbunden sind. Frischer Verbandsmull, nicht der aus dem Krankenhaus.
In der Ecke steht ein dickbauchiger eiserner Pelletofen, hinter dessen Tür ein helles Feuer brennt.
Ein hübscher Teppich und dunkle Walnussvertäfelung. Alles ist adrett und ordentlich, nicht ein Staubkörnchen zu sehen. Der einzige Ausreißer ist das Gemälde, das gegenüber des Bettes hängt.
Es ist ein einzigartiges, verdammtes Meisterwerk.
Ein alter Mann – nahezu nackt, die verschrumpelten, wurmigen Genitalien nur dürftig von einem dramatisch schwarzen Tuch bedeckt – hält ein schreiendes Kleinkind in den Händen, einen Jungen, und beißt in die Brust des Kindes; zwischen seinen Zähnen ein breiter Streifen Fleisch des Jungen.
»Es ist das Original.« Eine Frau steht in der Tür.
Sie. Die Schulschwester.
Nein – nicht bloß die Schulschwester. Die Hausmutter der Schule.
Eleanor Caldecott.
»Was?«, fragt Miriam aggressiver, als sie es wollte. Aber sie fühlt
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