BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
im kollektiven Gedächtnis des Landes noch immer als das eindrucksvollste und erfolgreichste galt, Konrad Adenauer. Eine Ähnlichkeit, die sicher zu seinem Wahlerfolg beigetragen hatte. Allerdings war er dreißig Jahre jünger, als der Alte bei seiner Wahl gewesen war, und stammte aus dem anderen politischen Lager. Die Folgen der Wirtschaftskrise hatten soziale Ideen wieder gesellschaftsfähig gemacht. Umso kurioser, dass ausgerechnet ein Quereinsteiger aus der Wirtschaft die Sympathien der sozialdemokratischen Funktionäre und der Wählerschaft gefunden hatte. Michelsen hatte ihn nicht gewählt. Sie hielt ihn für einen gesinnungslosen Opportunisten. Aber wenn sie es sich recht überlegte, dachte sie das von den meisten Politikern in führenden Positionen. Vielleicht lag das auch nur daran, dass sie in einer Zeit aufgewachsen war, als es in der Politik noch um Ideen zu gehen schien. Immerhin musste man ihm anrechnen, dass er das Land bislang besser durch die wirtschaftliche Krise steuerte als die meisten seiner westlichen Kollegen. Auch jetzt verbreitete er eine Stimmung von Entschlossenheit und Tatkraft. Ihm folgten das gesamte Kabinett und alle Regierungschefs der Länder bis auf den von Schleswig-Holstein, der aus Gesundheitsgründen seine Stellvertreterin gesandt hatte. Das Händeschütteln dauerte einige Minuten, dann nahmen alle Platz.
»Ich danke den Anwesenden für ihr Kommen und begrüße auch die Damen und Herren, die per Satellit zugeschaltet sind«, eröffnete der Bundeskanzler seine Ansprache.
Von jedem der zehn Bildschirme an der gegenüberliegenden Wand blickte jetzt dasselbe Gesicht.
»Die Entwicklung der letzten Stunden geben diesem Termin eine ganz andere Bedeutung als bei seiner Einberufung gestern. Die heutigen Erkenntnisse aus Italien und Schweden sowie die jüngsten Vorkommnisse in Frankreich und anderen Ländern lassen die gegenwärtige Situation kaum mehr auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückführen. Die europäischen Sicherheitsbehörden gehen inzwischen von einem breit angelegten Angriff auf die europäischen Energiesysteme aus. Um uns allen ein Bild zu vermitteln, was das für Deutschland bedeutet, habe ich die Ministerien um ein Lagebild gebeten sowie ein Szenario dessen, was uns erwartet.« Er machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wasser.
Michelsen erwartete einen Appell oder dramatischen Aufruf zur Aufmerksamkeit. Stattdessen sagte er nur in ihre Richtung: »Bitte, meine Damen und Herren.«
Michelsen fing den unauffälligen Blickwechsel zwischen dem Innenminister und dem Staatssekretär Rhess auf, den der Minister mit einem Nicken ergänzte.
Rhess erhob sich und begann: »Seit bald achtundvierzig Stunden sind weite Teile Deutschlands ohne Strom. Sie alle kennen natürlich den Bericht Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang andauernden Ausfalls der Stromversorgung –, den der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung im Frühjahr 2011 präsentierte.«
Hatte sicher kaum einer gelesen, dachte Michelsen.
»Hier ein erster Eindruck, welche Konsequenzen die Ereignisse für die Bevölkerung haben.«
Sie hatten einige der TV -Berichte aus den letzten Tagen zusammenschneiden lassen. Auf einem großen Bildschirm an der Breitseite des Raums erschienen Fotos eines menschenleeren, dunklen Supermarkts.
»Beginnen wir mit der Nahrungsmittelversorgung. Der überwiegende Teil Deutschlands bezieht seine Lebensmittel heutzutage aus Super- und Großmärkten. Diese Quelle ist vorerst weitestgehend versiegt. Kollegin Michelsen, stellvertretende Leiterin der Abteilung Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement im Innenministerium, erklärt kurz, warum.«
Michelsen erhob sich und übernahm. Sie rief Bilder von Häfen auf. Zwischen einem Containermeer hievten gigantische Kräne die großen Metallboxen von Schiffen auf. Aufnahmen von Güterzügen folgten, Kamerafahrten durch lange, hohe Reihen in Lager- und Kühlhäusern schlossen sich an.
»Mehr oder minder die komplette Produktions- und Lieferkette von Lebensmitteln steht still«, eröffnete sie. »Denn sämtliche modernen Systeme arbeiten elektronisch.«
Hallen mit Kühen, eine neben der anderen in engen Metallpferchen.
»Nehmen wir eines unserer Grundnahrungsmittel, Milch. Normalerweise leiden wir in Europa an einem Überschuss, der uns zwingt, die Milchseen wegzuschütten oder zu Dumpingpreisen in die Dritte Welt zu verkaufen. Diese
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